Augsburger Allgemeine (Land West)
Höllenritt in die bayerische Unterwelt
Konzert Die Nockherberg-Formation Dreiviertelblut bringt mit neuen Finsterliedern die Stadthalle zum Beben
Gersthofen Der Freistaat Bayern – Land der Berge, Land der Idylle, Land der sprichwörtlichen Gemütlichkeit. Aber auch ein Land mit blutiger Vergangenheit, düsteren Legenden und neu entflammtem Fremdenhass. Die vom Nockherberg bekannte Mundart-Formation Dreiviertelblut ist in der Gersthofer Stadthalle in die tiefsten Abgründe der bajuwarischen Volksseele hinabgestiegen und hat mit einem rabenschwarzen Feuerwerk an neuen Finsterliedern das Publikum zum Kreischen gebracht.
Die Mission der oberbayerischen Ausnahmekünstler: moderne Sozialkritik in schaurig-schöne Erzählungen aus der heimatlichen Alpenwelt zu verpacken, und dabei genreübergreifend ganz neue Klangdimensionen zu schaffen. Mit einer Kombination von Mundart-Gstanzeln, jazzorientierter Experimentalmusik und brachialem Alpenwesternsound formierte sich hier ein ganz besonderes Musikerlebnis, das sich mal in melancholischen Balladen, mal in nostalgischen Zirkusklängen manifestierte und immer wieder neue spannende Fragen aufgeworfen hat: Soll der monotone Schlagzeugbeat etwa den Herzschlag eines Werwolfes darstellen oder doch eher den steigenden Puls seines Opfers? Wie schaffte es Florian Riedl mit seiner Klarinette, täuschend echt das Summen einer Fliege zu imitieren? Und wer ist wohl die geheimnisvolle Zigeunerin, die in einem Song des nächtens auf dem Berg ihr Unwesen treibt?
Zugegeben: Manchmal konnte es durchaus erschreckend wirken, wenn sich Frontsänger Sebastian Horn am ganzen Körper zuckend und wie vom Teufel besessen irgendwo zwischen Stuhl und Bühnenboden festkrallte, und seine einvernehmende Stimme vom flüsternden Sprechgesang zum animalischen Kreischen empor schraubte. Und ebenfalls zugegeben: Eine Handvoll Besucher hatte in der Pause mit aschfahlen Gesichtern die Halle verlassen, waren doch Arrangements wie auch Bühnenpräsenz wahrlich nicht immer leichte Kost, wie sich insbesondere im zweiten Teil des melancholischen Musiktrips in die menschliche Unterwelt zeigte. So etwa im Song „13 Minuten“, in welchem der liebe Herrgott einfach mal eine knappe Viertelstunde Auszeit nimmt, um eine Runde Golf zu spielen. Klingt auf den ersten Blick heiter bis harmlos, doch der Teufel steckte hier wortwörtlich im Detail.
Denn in Wahrheit geht es in dem Stück um den Hitler-Attentäter Georg Elser, der dem grausamen Spuk des Dritten Reichs durch eine Bombe ein explosives Ende gesetzt hätte – wäre Adolf Hitler nicht exakt 13 Minuten zu früh aus dem Münchner Bürgerbräukeller entschwunden. Ähnlich subtil und nicht weniger verstörend eine wunderschöne Hommage an den österreichischen Dunkelbarden Ludwig Hirsch und sein alles erstickendes Arrangement „I lieg am Ruckn“: Ein unbekannter Erzähler bemerkt voller Traurigkeit, dass seine geliebte Frau diese Nacht zum ersten Mal nicht neben ihm liegt und er selbst eine einsame Kälte verspürt. Noch weiß er nach diesen berührenden Anfangszeilen nicht, dass er keineswegs im heimischen Ehebett erwacht ist, sondern vier Meter unter der Erde – in einem Sarg aus Holz.
Einen weiteren Höhepunkt präsentierte Dreiviertelblut schließlich im furchteinflößendem „Sturm“– vordergründig die Beschreibung einer bäuerlichen Flucht vor einem drohenden Unwetter in den Bergen, hintergründig die verzweifelte Suche verfolgter Menschen nach Schutz in Zeiten von Populismus und Fremdenfeindlichkeit. Trotz – oder gerade wegen – all dieser dunklen Poesie präsentierte sich hier durchwegs ein spannungsgeladener Abend, wobei es den Musikern mit mitreißenden Instrumentalkünsten, aufwühlenden Emotionen und diabolischer Lyrik voller Tiefgang gelungen ist, sowohl junge Konzertbesucher mit zerrissenen Jeans als auch gediegene Herrschaften in bodenständigen Trachtenanzügen in einen hypnotisierenden Bann zu ziehen.
Die echten Dreiviertelblut-Fans wussten freilich, dass als Zugabe dieses wohltemperierten Höllenritts nur noch eines folgen würde: Der legendäre Teufelstanz, der nochmals sämtliche Instrumente zum Glühen brachte und die Stimme von Sänger Sebastian Horn bis aufs Äußerste malträtierte. Nach einem dämonischen Paukenschlag herrschte dann mit einem Mal Ruhe im Saal – bis schließlich hunderte Besucher in ein frenetisches Jubelgeschrei ausbrachen und sich Reihe für Reihe ehrerbietig von ihren Plätzen erhoben.