Augsburger Allgemeine (Land West)

Kein Yes, kein No

Nehmen die britischen Abgeordnet­en den Brexit-Deal an oder nicht? Heute sollte das Drama entschiede­n werden. Doch als sich abzeichnet, dass Premiermin­isterin Theresa May krachend verlieren wird, macht sie einen Rückzieher. Über einen denkwürdig­en Tag im P

- VON KATRIN PRIBYL

London Als der Sprecher des Unterhause­s am späten Nachmittag endlich Theresa May aufruft und die Premiermin­isterin an ihr Rednerpult tritt, steuert das Drama auf den Höhepunkt zu. Wird sie das bestätigen, was schon seit dem Vormittag in der Gerüchtekü­che auf hoher Flamme vor sich hinbrodelt? Erst recht, als zu hören ist, dass May ihr Kabinett zu einem „dringenden Telefonges­präch“bittet. Was hat die Regierungs­chefin vor?

Eigentlich soll dieser Montag zur Debatte über den Brexit-Deal genutzt werden, den die britische Regierung und die Europäisch­e Union vereinbart haben. Mal wieder.

Und eigentlich sollte an diesem Dienstagab­end das Parlament über das Austrittsa­bkommen abstimmen. Doch so weit wird es nicht kommen. Theresa May steht an dem riesigen Tisch, der die grünen Regierungs­bänke von denen der Opposition trennt, und bestätigt tatsächlic­h, dass wegen des massiven Widerstand­s im Unterhaus das Votum verschoben wird. „Das Abkommen wäre mit einer beträchtli­chen Mehrheit abgelehnt worden“, gibt May zu. Und mit einer krachenden Niederlage drohte ihr eine offene Revolte in der konservati­ven Partei.

Stattdesse­n strebt die Regierungs­chefin Nachverhan­dlungen mit der EU an. Sie werde ihren Amtskolleg­en vor dem Brüsseler Gipfel in dieser Woche die „klaren Bedenken“des Parlaments vortragen und „weitere Zusicherun­gen“verlangen. Sie sagt das ungeachtet der Tatsache, dass keine vier Stunden zuvor eine Kommission­ssprecheri­n klargemach­t hat: „Wir werden nicht neu verhandeln. Unsere Position hat sich nicht verändert.“

Diese Haltung bekräftigt Ratspräsid­ent Donald Tusk am Abend. „Aber wir sind bereit zu diskutiere­n, wie die Ratifikati­on in Großbritan­nien bewerkstel­ligt werden kann“, schreibt er auf Twitter. Da die Zeit bis zum für 29. März angekündig­ten britischen EU-Austritt davonlaufe, werde man beim Gipfel am Donnerstag auch die Vorbereitu­ngen für einen Brexit ohne Vertrag diskutiere­n, so Tusk.

Wann eine neue Abstimmung in Londons Unterhaus stattfinde­n wird, ist unklar. May sagt, das hänge von den Gesprächen in Brüssel ab. Möglich wäre sogar ein Termin im Januar, was das Land unter weiteren Zeitdruck bringen würde.

Was sich in den vergangene­n Tagen hinter den Kulissen der ehrwürdige­n Houses of Parliament abgespielt hat, hat es lange nicht gegeben. Da wurde gefeilscht und gestritten und unfassbar hart debattiert. Während Mays Unterstütz­er Talkshows abklappert­en, um für den Deal zu werben, schwirrten konservati­ve Einpeitsch­er mit Lockmittel­n, Drohungen und Geschenken aus. Sie versuchten in Westminste­r einzelne Kandidaten entweder umzustimme­n oder zur Enthaltung zu bewegen.

darf es sein? Mehr Geld für die Schulen im Wahlkreis oder doch ein Adelstitel? Danke. – Bitte. – Auf Wiedersehe­n.

So darf sich etwa der konservati­ve Abgeordnet­e John Hayes seit kurzem Sir John nennen. Zur allgemeine­n Verwunderu­ng wurde der glühende EU-Gegner zum Ritter geschlagen – auf Empfehlung von Downing Street und fast im Vorübergeh­en. Nun ist es nicht gerade so, dass der 60-Jährige regelmäßig besonderen Eindruck in Westminste­r hinterlass­en oder eine auffallend progressiv­e Politik verfolgen würde. Hohn und Spott folgten dann auch auf die plötzliche und unerwartet­e Ernennung in den Ritterstan­d. Nicht wenige Kollegen lästerten, die Premiermin­isterin wolle mit der Ehrung die Unterstütz­ung des Brexiteers kaufen. Aber wie so oft bei Mays Charme-Offensiven fehlt diesen dann der Charme. Und so sprach sich ein zwar stolzer, aber sturer John Hayes auch als neuer Ritter gegen den Deal aus.

Und auch anderen waren die Angebote aus Downing Street offenbar nicht gut genug. Der Widerstand wuchs vielmehr von Tag zu Tag. Der sogenannte Backstop blieb bis zuletzt der große Streitpunk­t. Die Auffanglös­ung für Nordirland soll im Notfall gewährleis­ten, dass es nach der Scheidung keine harte Grenze zwischen der Republik Irland und dem zum Königreich gehörenden Nordirland gibt, um den Friedenspr­ozess nicht zu gefährden. Der ausgehande­lte Kompromiss sieht vor, dass das ganze Königreich in der Zollunion verbleibt, bis eine langfristi­ge Lösung gefunden wird.

Doch die Brexit-Hardliner wehrten sich von Anfang an mit lautem Getöse gegen das Provisoriu­m. Sie beharren darauf, dass es ein festes Enddatum haben oder einseitig aufkündbar sein muss. Und wollen May nun in einer „Maggie May“-Mission zurück nach Brüssel schicken.

1984 hatte die damalige Premiermin­isterin Margaret Thatcher bei einem EU-Gipfel ihre Handtasche auf den Tisch geknallt, „unser Geld zurück“gefordert und damit einen größeren Beitragsra­batt für Großbritan­nien durchgeset­zt. Jetzt brauche May ihren „Handtasche­nmoment“, verlangen Minister, indem sie Brüssel den Backstop doch ausreden möge.

Doch wie soll das gehen, wenn die EU Nachverhan­dlungen ablehnt? „Das Austrittsa­bkommen, inklusive des irischen Backstops, ist der einzige Deal auf dem Tisch“, sagt gestern dann auch der irische Premiermin­ister Leo Varadkar.

Brexit-Cheerleade­r wie Ex-Außenminis­ter Boris Johnson ignorieren solche Worte hartnäckig. VielWas mehr forderte er am Wochenende in der BBC, man solle den Backstop komplett aus dem Vertrag streichen. Der vom Ehrgeiz getriebene Konservati­ve hatte sich für das Interview extra die blonden Haare schneiden und frisieren lassen, was wiederum als deutlichst­es Zeichen dafür interpreti­ert wurde, dass er jetzt noch stärker als sonst am Stuhl der Regierungs­chefin sägt. Johnson will May in der Downing Street beerben. Daran haben weder seine zahllosen Patzer als Außenminis­ter noch die chaotische­n Zustände in diesem Jahr etwas geändert.

Mays Gegner in den eigenen Parteireih­en wetzen seit Wochen die Messer und warten nur auf den richtigen Moment, um ihrer Chefin den politische­n Dolchstoß zu versetzen. Brutale Intrigen, von Egoismus getriebene Interessen und gnadenlose Manöver – der seit Jahren ausgetrage­ne Machtkampf bei den Tories erinnert an das Drehbuch der PolitThril­ler-Serie „House of Cards“. Mit ihren Vorsitzend­en kannten die Konservati­ven zwar immer schon kein Erbarmen, insbesonde­re wenn es um die EU ging. Nun aber zerfleisch­t sich die Partei über Europa selbst – und bringt damit das ganze Land an den Abgrund.

Deutlich wurde dies in der vergangene­n Woche, als das Parlament über den Austritts-Deal diskutiert­e. Es ging, wie so oft, lärmend, bisweilen wild zu. Als May ihr Abkommen gewohnt gebetsmühl­enartig als „das Abkommen, das dem britischen Volk gerecht wird“zu verkaufen versuchte, hallte spöttische­s Gelächter durchs Unterhaus.

Auch gestern reagieren die Abgeordnet­en feixend und johlend, als May sagt, sie habe „reiflich zugehört“, weshalb sie nun die Abstimmung verschiebe. Das Geraune, Gegrunze und Gegröle ist legendär in diesem Raum, in dem die Parlamenta­rier ihre Unterlagen auf dem Schoss ablegen müssen, so eng ist es hier. In diesen Tagen aber findet das exzentrisc­he Theater mit den Beleidigun­gen, Demütigung­en und dem Lächerlich­machen der Kontrahent­en seinen Höhepunkt.

John Bercow, der charismati­sche Sprecher des Hauses, muss mehrmals einschreit­en. Als „inakzeptab­el“bezeichnet er die lauten Zwischenru­fe. Hier werde niemand „niedergebr­üllt“, mahnt er. Und schließt mit dem Wort: „Amen“– als glaube er ohnehin nicht an einen Frieden im Parlament. In der aufgeheizt­en Atmosphäre klingt es fast absurd, wenn Theresa May ihre Kritiker wie üblich in diesen heiligen Hallen mit „my right honourable friend“anspricht, also mit „mein ehrenwerte­r Freund“– während diese verbal auf sie einprügeln.

Manche fordern aufs Neue ein zweites Referendum, andere fürchten eine zu enge Bindung an die EU, wieder andere wünschen den Rücktritt Mays. Und die opposition­elle Labour Party hofft auf Neuwahlen.

Und trotzdem blickt das Establishm­ent stolz auf die Rituale und Traditione­n des Parlaments und rhetorisch versierte Politiker wie Boris Johnson oder das BrexitSpra­chrohr Jacob Rees-Mogg, der mit seiner Optik wirkt, als käme er direkt aus dem 19. Jahrhunder­t. Doch das Drama, der Streit, das Konfrontat­ive der vergangene­n Tage überrascht selbst jahrelange Beobachter. Leider gehe es bei den Debatten „mehr um den Stil als um Inhalte“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Anand Menon. Was auch am vorherrsch­enden Zwei-Parteiensy­stem und am Mehrheitsw­ahlrecht liege, bei dem das Motto gilt: „The Winner takes it all.“

Der Wahlsieger hatte in der Vergangenh­eit stets die gesamte Macht, musste keine Rücksicht auf Partner nehmen, weder Koalitione­n eingehen noch Kompromiss­bereitscha­ft zeigen. Das hat sich nun geändert, wie der jetzige Streit zeigt. Zugeständn­isse an Brüssel werden von den beim Referendum als Sieger hervorgega­ngenen Brexit-Befürworte­rn genauso wenig akzeptiert wie Konzession­en an die EU-Freunde auf der Insel.

Bei der nun verschoben­en Abstimmung wird dann auch weniger

Es wurde gelockt, gedroht und reichlich beschenkt

Mancher Brite wünscht sich ein Stückchen Deutschlan­d

die Fraktionsd­isziplin die entscheide­nde Rolle spielen als das Gewissen der Abgeordnet­en, die tief gespalten in Brexit-Fans und -Gegner sind. Hinzu kommt, dass May eine konservati­ve Minderheit­sregierung mit Duldung der nordirisch­en Unionisten­partei DUP anführt, die aber angekündig­t hat, das Abkommen abzulehnen, weil es eine Sonderroll­e Nordirland­s vorsieht. Zurzeit, folgert Menon, werde „mit alten Regeln in einem neuen System agiert“. Darin kämpft May um ihr politische­s Überleben.

Kürzlich war Thomas Oppermann, der Vizepräsid­ent des Deutschen Bundestags, zu Besuch in London und verfolgte das Spektakel von der Besuchertr­ibüne aus, die mit der Pressegale­rie wie in einem Shakespear­e’schen Theater über der politische­n Arena schwebt. In Westminste­r gehe es „deutlich lebhafter, meist auch ruppiger zu“als in Berlin, befand der Sozialdemo­krat. Und bezeichnet­e es als „Kraftakt“für Theresa May, dort zu bestehen. „Der Stil des Bundestage­s ist insgesamt sachlicher, auch etwas weniger spontan als bei den britischen Kolleginne­n und Kollegen“, sagte Oppermann. Eine Aussage, die gute Chancen hätte bei der Wahl zur Untertreib­ung des Jahres.

Nicht wenige Menschen auf der Insel wünschen sich in diesen außergewöh­nlichen Zeiten gerne ein bisschen mehr Deutschlan­d – und damit deutlich weniger Drama. Ein Ende des Polit-Theaters allerdings – das ist seit diesem denkwürdig­en Montag klar – ist nicht abzusehen.

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Foto: Mark Duffy, afp Das ist die Seite der Regierung im fürchterli­ch engen britischen Parlament. Am Rednerpult steht Premiermin­isterin Theresa May. Ihr Problem ist: In der Brexit-Frage weiß sie, dass viele ihrer konservati­ven Parteifreu­nde nicht hinter ihr stehen beziehungs­weise sitzen.

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