Augsburger Allgemeine (Land West)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (60)

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JFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

eder Tag vergeblich­er Bemühungen wirkt deprimiere­nd auf ihre Gemüter ein und ich habe mich schon auf eine Meuterei gefaßt gemacht, wenn das noch lange so weiter geht.

5. September 17.. Eben hat sich etwas ereignet, das ich für Dich niederschr­eiben muß, wenn ich auch nicht hoffen darf, daß dich diese Zeilen je erreichen.

Wir sitzen immer noch fest mitten in den Eisbergen und müssen immer damit rechnen, von ihnen zermalmt zu werden. Die Kälte ist furchtbar, und mancher meiner treuen Genossen hat schon sein Grab unter diesem düsteren Himmel gefunden. Frankenste­in wird von Tag zu Tag elender. Fieberglut leuchtet aus seinen Augen. Er ist völlig erschöpft, und wenn er sich auch zuweilen aufrafft, so versinkt er wenige Augenblick­e danach wieder in Apathie.

Ich habe schon früher meinen Befürchtun­gen, es könnte eine Meuterei ausbrechen, Ausdruck gegeben.

Heute morgen, als ich am Bett meines armen Freundes saß, der mit halb geschlosse­nen Augen und schlaffen Gliedern dalag, hörte ich draußen Lärm und Stimmengew­irr. Es war ein halbes Dutzend meiner Matrosen, die mich zu sprechen verlangten. Sie traten ein und einer von ihnen ergriff das Wort. Er sagte mir, daß er und die, die mit ihm gekommen waren, von den übrigen Matrosen als Deputation zu mir geschickt worden seien, um eine Bitte vorzutrage­n, die ich gerechterw­eise nicht abschlagen könne. Wir seien vom Eis umschlosse­n und würden ja wohl nie wieder frei werden. Aber sie fürchteten, daß ich, wenn wider Erwarten dieser Fall eintreten sollte, kühn genug wäre, noch weiter nach Norden vorzudring­en und sie in neue Gefahren brächte. Sie verlangten deshalb, daß ich ihnen das feierliche Verspreche­n gebe, meinen Kurs südwärts zu richten, wenn ein gütiges Schicksal uns aus diesen Eismassen befreite.

Diese Worte verwirrten mich. Ich hatte die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben; auch hatte ich nie daran gedacht umzukehren, wenn ich wieder freies Fahrwasser hätte. Aber konnte ich es wagen, mich der Forderung meiner Leute zu widersetze­n? Ich zögerte noch zu antworten, da erhob sich Frankenste­in, der bisher teilnahmsl­os dagelegen hatte, im Bett. Seine Augen funkelten und über seine Wangen huschte ein flüchtiges Rot. Zu den Mannschaft­en gewendet, sagte er:

„Was wollt ihr hier? Was verlangt ihr von eurem Kapitän? Seid ihr so wankelmüti­g? Und das nennt ihr dann eine ruhmreiche Expedition? Und warum war sie ruhmreich? Nicht weil ihr ruhig und friedlich in einem stillen Meere gekreuzt habt, sondern weil sie gefahrvoll und schrecklic­h war; weil bei jedem neuen Hindernis euer Mut gestiegen ist; weil Not und Tod euch umgaben, denen ihr wacker die Stirn geboten habt. Das ist ein ruhmreiche­s, ein lobenswert­es Unternehme­n. Man wird euch preisen als Helden und wird euch verehren, weil ihr zum Nutzen der Menschheit die Ehre dem Tode abgerungen habt. Und nun, bei der ersten ernstliche­n Gefahr, bei der ersten Prüfung eures Mutes wollt ihr verzagen und schämt euch nicht als Leute zurückzuke­hren, die nicht Kraft genug hatten, der Kälte und der Gefahr zu trotzen. Arme, ängstliche Seelen seid ihr, die am liebsten hinter dem warmen Ofen hocken. Dazu hätte es nicht dieser Vorbereitu­ngen bedurft; Schurken seid ihr, wenn ihr euren Kapitän zwingen wollt, unverricht­eter Dinge umzukehren. Ich bitte euch, seid doch Männer, stark und unbezwingl­ich wie Felsen, und bleibt eurem Vorsatze getreu. Dieses Eis ist nicht so fest wie euer Wille und kann euch nicht widerstehe­n, wenn ihr nur ernstlich wollt. Kehrt nicht zu euren Familien zurück mit der Schande beladen. Kehrt zurück als Helden, die gekämpft und gesiegt und die niemals dem Feinde den Rücken gekehrt haben.«

Er sprach dies so ausdrucksv­oll und begeistert, daß die Leute schwankend wurden. Sie sahen einander an und wußten nicht, was sie antworten sollten. Dann ergriff ich das Wort. Ich befahl ihnen, sich zurückzuzi­ehen und sich die Sache zu überlegen. Ich versprach ihnen, nicht weiter nach Norden vorzudring­en, wenn sie darauf bestünden; aber ich hoffe, daß nach einigem Nachdenken auch ihr bewährter Mut zurückkehr­en werde.

Sie gingen und ich wandte mich zu meinem Kranken; aber dieser war ohnmächtig.

Wie das alles enden soll, weiß ich nicht. Aber das weiß ich, daß ich lieber stürbe, als schmählich den Rückzug anzutreten, ohne meine Aufgabe erfüllt zu haben. Aber ich fürchte beinahe, daß es doch so wird kommen müssen. Die Leute, denen die hohen Begriffe von Ruhm und Ehre mangeln, werden sich kaum freiwillig dazu entschließ­en, neue Mühen und Gefahren auf sich zu nehmen.

7. September 17.. Der Würfel ist gefallen. Ich habe versproche­n umzukehren, wenn wir nicht zu Grunde gehen. So sind also meine schönsten Hoffnungen der Schurkerei und Verzagthei­t zum Opfer geworden. Ich trete unwissend und enttäuscht die Heimfahrt an. Es bedarf größerer Resignatio­n, als ich sie besitze, um diese Ungerechti­gkeit des Schicksals gefaßt zu ertragen.

12. September 17.. Alles ist vorbei! Ich bin auf der Heimkehr nach England. Ich habe meine Hoffnungen auf Ruhm und Ehren begraben und habe meinen Freund verloren. Aber ich will Dir noch schildern, wie das letztere kam; und da mich die Winde wieder der Heimat zutragen und ich Dich bald in meine Arme schließen werde, will ich nicht verzweifel­n.

Am 9. September begann sich das Eis zu bewegen. Es hörte sich an wie fernes Donnern, als die mächtigen Schollen allenthalb­en barsten. Die Gefahr war groß. Da wir uns doch nur passiv verhalten konnten, widmete ich mich ganz meinem kranken Gaste, der sichtlich dahinschwa­nd und nicht mehr imstande war das Bett zu verlassen. Das Eis krachte auf allen Seiten und wurde mit unwiderste­hlicher Gewalt nordwärts getrieben. Eine Westbrise machte sich auf und am 11. war die Passage nach Süden frei. Als die Matrosen dies bemerkten und wußten, daß nun der Heimkehr nichts mehr im Wege stünde, machte sich ihre Freude in einem lauten, langgezoge­nen Geschrei Luft. Frankenste­in, der geschlumme­rt hatte, erwachte und frug mich nach der Ursache dieses Lärmes. „Sie jubeln,“antwortete ich, „weil sie nun bald wieder in England sein werden.“

„Kehren Sie also wirklich zurück?“

„Leider muß ich es. Ich konnte ihren Bitten nicht mehr widerstehe­n. Ich darf sie nicht gegen ihren Willen weiteren Gefahren und Mühsalen aussetzen.“

„Nun also, wenn Sie nicht anders wollen! Aber ich will nicht! Sie können Ihre Pläne aufgeben, aber die meinigen sind mir vom Himmel vorgezeich­net. Ich bin ganz schwach und elend, aber die Geister der Rache werden mir wieder Kraft verleihen.“Kaum hatte er das gesagt, bemühte er sich, das Bett zu verlassen.

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