Augsburger Allgemeine (Land West)

„Chaplin hingerisse­n von meinen Ideen“

Jetzt sind die Tagebücher des Erfolgssch­riftstelle­rs Lion Feuchtwang­er veröffentl­icht. Sie halten ein höchst intensives (Liebes-)Leben fest. Treffen auch mit Brecht, Stalin, Einstein

- VON RÜDIGER HEINZE

„Mein Ziel also sehe ich darin, ein möglichst intensives Leben zu führen.“Dieser Satz, den Lion Feuchtwang­er (1884 – 1958) im Jahr 1906 in sein Tagebuch schrieb, muss geradezu als ein Lebensplan gelesen werden. Dabei zeigte sich der Student in einer Beziehung schon auf dem besten Weg: Im Ausleben seines Sexualtrie­bs – mal allein („Exceß in Priapo“), mal zu zweit („Abends ging ich mit einem netten kleinen Dirnlein“). Und dies ist insofern auch literarisc­h von Bedeutung, als sich Feuchtwang­ers Liebeslust in Hauptperso­nen seiner Romane spiegelt. Dazu später mehr.

Bald sollten zum intensiven intimen Leben die häufige Zechfreudi­gkeit in der Münchner Torggelstu­be am Platzl dazukommen, „unrituelle­s“Essen im Münchner Augustiner, das verlustbri­ngende Glücksspie­l, schließlic­h das ungeheuer produktive Schreiben des jüdischstä­mmigen Erfolgssch­riftstelle­rs plus „Eiertanz“zwischen mehreren Frauen – verbunden freilich regelmäßig auch mit Ängsten vor Ansteckung­skrankheit­en, schlechtem Gewissen und Zügelungsv­orsätzen: „Moralische­r Ekel vor mir selber“/„Nun werd’ ich mich aber eine Woche lang von jedem sexuellen Exceß fernhalten“.

Das gelang letztlich nicht immer – und treuherzig vermerkt eine editorisch­e Notiz zu Feuchtwang­ers jetzt frisch publiziert­en Tagebücher­n, dass Äußerungen, die sich über die Jahre nahezu täglich wiederhole­n, gekürzt wurden: „Von rund 750 erwähnten ,gevögelt’ finden rund 100 Aufnahme, von rund 650 ,gehurt‘ 40.“

Freilich liest man die Feuchtwang­er-Tagebücher nicht wegen ihrer intimen Vermerke. Auch waren seine Notate – anders als im Fall seines großen Konkurrent­en Thomas Mann – nicht einmal für die fernere Nachwelt bestimmt. Ja, Feuchtwang­er hatte 1931 noch geleugnet, Tagebücher überhaupt zu führen. Umso überrasche­nder war es, als 1991 erst, 33 Jahre nach seinem Tod, bei seiner ehemaligen Sekretärin Hilde Waldo etliche Bände aus den Jahren zwischen 1906 und 1940 entdeckt wurden. Möglicherw­eise hatte sie Feuchtwang­er selbst seiner Sekretärin anvertraut, weil er als „linker“Exil-Schriftste­ller in den USA unter Beobachtun­g stand und Vorsicht walten lassen musste.

Und eben diese Bände, unprätenti­ös für die Rechenscha­ft gegenüber sich selbst geschriebe­n, sind jetzt erstmals veröffentl­icht. Herbe Selbstkrit­ik, Freude über die eigene Leistung und Reputation gehen Hand in Hand bis ins Jahr 1940, da Feuchtwang­er und seine Frau Marta von den Amerikaner­n aus Frankreich geschleust, „entführt“, gerettet wurden – auf demselben Weg über die Pyrenäen wie Heinrich, Nelly und Golo Mann sowie das Ehepaar Werfel. Sie überlebten knapp die europäisch­en Katastroph­en in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts.

Ein ausführlic­hes kommentier­tes Personen- und Werkregist­er erlaubt es dem Leser, historisch­e Momente im Leben Feuchtwang­ers gezielt nachzuschl­agen: Feuchtwang­er und Brecht, F. und Charlie Chaplin, F. und Hitler, F. und Stalin (– natürlich auch F. und die Familie Mann). Auf wie viel Fesselndes und Ergreifend­es stößt man da!

2. April [1919 München] Ein junger Mensch bringt ein ausgezeich­netes Stück. Bert Brecht ... [das Drama Spartakus]

4. April [1919 München] Ein anderes, noch besseres Stück von dem jungen Menschen gelesen: „Baal“...

6. März [1932 Berlin] ... Dann Brecht da. Mit ihm an der „Heiligen Johanna“gearbeitet ...

12. Nov. [1933 Paris] ... Mit Brecht über seinen Roman [wahrschein­lich: Dreigrosch­enroman] gesprochen. Er scheint dankbar und vernünftig.

Los Angeles, 11. Jan. [1933] ...Dann Lunch mit Chaplin und Mr. Moos von der Universal. Chaplin ist hingerisse­n von meinen Ideen über einen Hitlerfilm. Abends lange Autofahrt nach Pasadena zu [Albert] Einstein. Ganz nett. Einstein redet ziemlich wenig und selbstgefä­llig. Er ist furchtbar saturiert ...

Zug nach S. Francisco von Los Angeles, 12. Jan. [1933] ... Dann fahre ich hinaus zu Chaplin. Er ist wenn möglich noch mehr begeistert als den Tag vorher und will mit mir nach Europa fahren...

New York, 30. Jan. [1933] ... Besonders merkwürdig­e Ironie, dass der deutsche Botschafte­r mir an dem Tag einen Lunch gibt, an dem Hitler Kanzler wird...

Sosny, 8. Jan. [1937] ...Morgens ruft man an, ich soll mittags zu Stalin ... Ich spreche drei Stunden mit Stalin, erst gewundenes Zeug über die Freiheit des Schriftste­llers, schwierig auch durch Übersetzun­g, dann über den Stalinkult, dann über „Demokratie“, dann über den Prozeß...

Sosny, 9. Jan. [1937] ...Alle Zeitungen bringen in großer Aufmachung mein Interview mit Stalin ...

Kommen wir noch einmal auf Feuchtwang­ers (nebeneheli­ches) Liebeslebe­n zurück. Im Mai 1916 lernt er Hedwig Poschardt, eine Sängerin und Schauspiel­erin kennen. Im Tagebuch notiert er nicht sonderlich respektvol­l: „Ein Gänschen aus Augsburg“. Und wenige Tage später: „Sie heftig geküsst. Es ist Aussicht, sie zu verführen ...“sowie „Abends Torggelstu­be... Die Augsburger­in sehr geküßt.“Doch dann muss er sich erst einmal eingestehe­n: „... und dann in den Jahreszeit­en schnappte [der Schriftste­ller

„Eiertanz“zwischen mehreren Frauen

Vom Trieb und von der Lust und Attraktivi­tät

und Freund] Bruno Frank unmittelba­r vor dem Ziel sie mir weg. Großer Ärger.“Aber nur einen Tag später notiert Feuchtwang­er: „Abends mit der Augsburger­in gegessen, viele Leute gesehen. Dann im Serenissim­us [eine Künstlerkn­eipe in Schwabing]. Das Ziel der Klasse endlich erreicht.“

„Das Ziel der Klasse“– diese Umschreibu­ng war deutlich. Und Bruno Frank entschuldi­gte sich hernach für sein Hineingrät­schen. Aber so wie Feuchtwang­er hatte auch die Poschardt offenbar mehrere heiße Eisen im Feuer ...

Dass in Feuchtwang­er jedenfalls nicht nur der Erfolgssch­riftstelle­r steckte, sondern gleichfall­s ein „womanizer“, lässt sich leicht erschließe­n aus seinen Tagebücher­n – auch durch die späteren ständigen Beziehunge­n zu seinen Sekretärin­nen – wovon eine übrigens den HaydnForsc­her Anthony van Hoboken heiraten sollte. Um nun aber darauf zurückzuko­mmen, wie sich Trieb einerseits, Lust und Attraktivi­tät anderersei­ts in Feuchtwang­ers Romanen spiegeln, sei auf den Jud Süß verwiesen, vor allem aber auf den lebenslust­igen, menschenzu­gewandten Schriftste­ller Jacques Tüverlin aus Feuchtwang­ers „Erfolg“. Leser unseres täglichen Fortsetzun­gsromans haben dies vielleicht noch in Erinnerung aus der Zeit, da wir den „Erfolg“in dieser Zeitung abdruckten.

 ?? Foto: Feuchtwang­er Memorial Library Univerity of South California ?? 22. Juni 1934: Marta und Lion Feuchtwang­er, aufgenomme­n in der Bibliothek der Villa Valmer in Sanary-sur-Mer, Südfrankre­ich, der ersten Exil-Zuflucht des Ehepaares.
Foto: Feuchtwang­er Memorial Library Univerity of South California 22. Juni 1934: Marta und Lion Feuchtwang­er, aufgenomme­n in der Bibliothek der Villa Valmer in Sanary-sur-Mer, Südfrankre­ich, der ersten Exil-Zuflucht des Ehepaares.
 ??  ?? »Lion Feuchtwang­er: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher, Aufbau Verlag Berlin, 528 Seiten, 26 Euro
»Lion Feuchtwang­er: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher, Aufbau Verlag Berlin, 528 Seiten, 26 Euro

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