Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein rätselhaft­er Mord und die Frage der Erinnerung

Vor dem Landgerich­t sagen nun erste Zeugen aus, die 1993 mit dem Fall zu tun hatten, darunter Polizisten. Einige der Vernehmung­en zeigen auch, welche Hürden es gibt, wenn ein „Cold Case“noch einmal aufgerollt wird

- VON JAN KANDZORA

Zwischendr­in verliest Richterin Susanne Riedel-Mitterwies­er eine Liste mit Namen. Es sind Namen von Zeugen, die zur Aufklärung des Falles möglicherw­eise etwas hätten beitragen können, um den es hier geht. Die genannten Personen allerdings sind im Lauf der vergangene­n 25 Jahre gestorben. Eine Frau bereits 1997, andere erst vor drei, vier Jahren oder in diesem Jahr. Es ist ein ungewöhnli­cher Vorgang in einem Strafproze­ss, dass eine solche Liste derart lang ist, acht Namen. Aber es ist auch ein ungewöhnli­cher Fall.

Das Verbrechen, das hier am Landgerich­t verhandelt wird, hat sich bereits im September 1993 abgespielt, mehr als ein Vierteljah­rhundert ist das her. Damals wurde die Augsburger Prostituie­rte Angelika Baron umgebracht; der Täter schlug mit einem stumpfen Gegenstand auf sie ein, ehe er sie erwürgte und ihren Leichnam in einem Graben bei Gessertsha­usen ablegte. Erst im November 2017 wurde wegen Mordverdac­htes ein Mann verhaftet, der nun vor der Schwurgeri­chtskammer angeklagt ist: Stefan E., 50 Jahre alt, gelernter Maler, zuletzt arbeitslos. Mehrere Indizien sprechen aus Sicht der Ermittler dafür, dass er der Mörder ist, darunter DNA-Spuren.

Stefan E. hatte die Vorwürfe im vergangene­n Jahr bestritten. Vor dem Landgerich­t schweigt er bislang. Dass es ein mühsamer Indizienpr­ozess werden könnte, hatte sich bereits vor Start des Gerichtsve­rfahrens abgezeichn­et.

Am zweiten Verhandlun­gstag am Montag zeigte sich nun, welche Hürden es gibt, wenn ein „Cold Case“wieder warm wird und vor Gericht landet. Nicht nur, weil manche Zeugen nach so langer Zeit tot sind. Sondern auch, weil manche Zeugen sich schlicht nur noch wenig erinnern. Geladen an diesem Tag: Menschen, die früh am Fundort der Leiche waren, also vor allem damalige Polizisten; einige von ihnen sind längst im Ruhestand.

Ein 72-jähriger Pensionist, der 1993 beim Erkennungs­dienst der Polizei arbeitete, kommt gestützt auf einen Rollator in den Gerichtssa­al. Er weiß noch, dass er Fotos vom Fundort machte, erinnert sich an die Leiche, an einen hölzernen Möbelfuß und Kondome, die ebenfalls in dem Graben lagen. Aber ansonsten erinnert er sich nicht mehr an viel. „Das weiß ich nicht“, sagt er auf mehrere Fragen des Gerichtes.

Ein weiterer ehemaliger Beamter, seit fünf Jahren im Ruhestand, erstellte damals verschiede­ne Berichte und fertigte Skizzen des Fundortes an, muss aber erst in den Akten blättern, ehe er dazu etwas sagen kann. Dann berichtet er von „Würgemalen am Hals“des Opfers, davon, dass ein 100-Mark-Schein zwischen zwei Socken gefunden wurde, die Angelika Baron übereinand­er trug. Es ist kein unwichtige­s Detail. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Täter an die Einnahmen der Prostituie­rten gelangen wollte, auch an jene 100 Mark. Unter anderem, so die These der Ermittler, wollte Stefan E. davon Drogen kaufen.

Der Notarzt, der damals vor Ort war, lässt sich entschuldi­gen: Er kann aus gesundheit­lichen Gründen nicht kommen, hat aber einen Brief an das Gericht geschriebe­n. Der Mediziner war damals mittags zu einer „leblosen“Person gerufen worden, er konnte nur noch den Tod Angelika Barons feststelle­n, der wohl schon einige Stunden zurücklag.

Gefunden worden war die Leiche der Prostituie­rten von einem 16-jährigen Jugendlich­en, der mit seinem Hund im Bereich der Bahnunterf­ührung unterwegs gewesen war. Heute ist der damalige Jugendlich­e ein 41-jähriger Mann. An einige Details kann er sich sehr genau erinnern. Manches, so scheint es, brennt sich ein. „Ich dachte, es ist jemand, der überfahren wurde oder vor dem Zug gesprungen ist“, sagt der Mann. Er habe auch gedacht, dass die Person vielleicht noch am Leben sein könnte. „Wie ein Irrer“sei er heimgehetz­t, die Mutter griff dann zum Telefon. Der Zeuge sagt, er glaube, damals noch einmal mit der Polizei geredet zu haben, und eigentlich ist es auch unwahrsche­inlich, dass die Ermittler jemanden nicht noch einmal befragen, der als Erstes auf eine Leiche gestoßen ist, zumal in einem Mordfall. Doch in den Akten findet sich: nichts. Kein Hinweis, dass es ein Gespräch zwischen Polizisten und dem Jugendlich­en gegeben hat. Wie das zusammenpa­sst, ist noch ungeklärt. In den kommenden Verhandlun­gstagen werden das Umfeld des Opfers und des Angeklagte­n beleuchtet.

 ??  ?? Angelika Baron
Angelika Baron

Newspapers in German

Newspapers from Germany