Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein 92-Jähriger sucht seine Mitschüler

Helmut Daubermann will ein Klassentre­ffen organisier­en. Er wurde 1933 in der Löweneck-schule in Oberhausen eingeschul­t und ist für einen Vormittag in seine alte Heimat zurückgeke­hrt

- VON ANDREA BAUMANN

Lange war Helmut Daubermann nicht mehr in dem Viertel, in dem er als Kind gelebt hat. Doch als er an diesem Wintertag vor der Löweneck-schule in Oberhausen steht, werden die Erinnerung­en schlagarti­g wach. Er zeigt auf den Eingang: „Hier sind immer die Mädchen reingegang­en.“Daubermann­s Blick schweift zu dem orange gestrichen­en Häuschen gegenüber: „Und hier war ein Laden, in dem wir unsere Guzzle gekauft haben. Wenn wir mal Geld hatten.“

Heute gilt Oberhausen als eher arm. Dass Helmut Daubermann als Kind jeden Pfennig wie einen Schatz hütete, lag weniger an der Sozialstru­ktur, sondern war der Zeit geschuldet: Er kam 1933, im Jahr der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten, in die Schule. Seine gesamte Schulzeit war vom Krieg geprägt und von Lehrern, die sich dem Regime unterwarfe­n.

Mit Erinnerung­en an den Krieg will sich der Rentner nicht lange aufhalten. Daubermann kehrt an seine alte Schule wegen eines ungewöhnli­chen Wunsches zurück. Der 92-Jährige will ein Klassentre­ffen organisier­en, das erste überhaupt. „Ich habe keinen meiner Mitschüler je wieder gesehen“, sagt er. Der Wunsch, den einen oder die andere nach so langer Zeit wiederzuse­hen, kam in ihm auf, als er in seinem jetzigen Zuhause in Neusäß alte Bilder durchstöbe­rte und auf ein Klassenfot­o aus dem Jahr 1936 stieß.

Das Bild zeigt 39 überwiegen­d ernst dreinblick­ende Kinder, nur wenige grinsen in die Kamera. Die Mädchen tragen Kleider, fast alle Jungs kurze Lederhosen, nicht aber Helmut, der in der hinteren Reihe steht und mit einem Pulli bekleidet ist. Rechts neben seiner Klasse steht mit unbewegter Miene der Lehrer Maikörner. So streng er auf den Betrachter wirkt, so streng war er auch im Unterricht. Sechs Tatzen auf die Hand habe es als Strafe gegeben oder Schläge auf das Hinterteil, erinnert sich Daubermann. Körperlich­e Züchtigung­en seien damals an der Tagesordnu­ng gewesen, auch für Helmut. „Ich war kein sonderlich aufmerksam­er Schüler.“

Als er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie aus der Schönsperg­erstraße in den Bärenkelle­r zog, hielt er bis zum Abschluss nach der 8. Klasse der Löweneck-schule die Treue. Das Gymnasium blieb dem jungen Daubermann verwehrt. Nur drei Mitschüler, darunter der Lehrersohn, durften wechseln. „Dabei hätten wir so viele Gescheite gehabt, die wären alle Professore­n geworden.“Auch er selbst hat ohne Abitur als gelernter Fernmeldet­echniker seinen Weg gemacht, sich mit dem Flugschein einen großen Traum erfüllt und für sein Engagement in der evangelisc­hen Kirche das Bundesverd­ienstkreuz verliehen bekommen.

All das rückt freilich in den Hintergrun­d, als der 92-Jährige seine alte Schule betritt und die Treppen in den zweiten Stock hinaufstei­gt. Für den langen Gang nimmt sich Daubermann Zeit, entdeckt die Garderoben­schränke. „Solche hatten wir auch, nur mit Gitter vornedran.“Als ein junger Lehrer eine Tür öffnet, spitzelt Daubermann neugierig hinein. Das sei sein Klassenzim­mer gewesen, meint er und korrigiert sich nach kurzem Überlegen. „Genau an dieser Stelle, aber einen Stock tiefer.“

Nach weiteren 50 Metern steht er vor Britta Siemers Tür. Die Rektorin nimmt sich für den besonderen Besucher Zeit. Sie hat sogar noch einen Siebtkläss­ler dazugebete­n, den 14-jährigen Christian, der wie die große Mehrheit der Löwenecksc­hüler für das multikultu­relle Oberhausen steht: Christian ist vor vier Jahren mit seiner Familie aus Rumänien ausgewande­rt, hat aber ungarische Wurzeln. Der Teenager im bunten T-shirt und der Gast, der sein Ururgroßva­ter sein könnte, verstehen sich auf Anhieb. „Zu meiner Zeit gab es an der Schule nur Deutsche“, erzählt Daubermann.

Wie viele Kinder damals die Klassenzim­mer bevölkerte­n, weiß der Senior nicht. Heute besuchen rund 450 Schüler aus mehr als 25 Nationen die Löweneck-schule, in der sich zumindest äußerlich in all den Jahren gar nicht so viel verändert hat. Voraussich­tlich im nächsten Sommer wird die anno 1904 erbaute Bildungsst­ätte zur Großbauste­lle. Dann soll sie für rund 16 Millionen Euro generalsan­iert werden. Mehrere Jahre sind dafür veranschla­gt. Helmut Daubermann hofft, dass er vor den Beginn der Arbeiten nochmals seine alte Schule besuchen kann. Die Einladung von Rektorin Siemer steht. Und sie gilt auch für die Klassenkam­eraden, die sich bei dem 92-Jährigen in den nächsten Tagen vielleicht melden.

OKontakt Wer 1933 an der Löwenecksc­hule eingeschul­t wurde und in Daubermann­s Klasse ging, kann mit ihm unter Telefon 0821/483999 oder E-mail h.daubermann@t-online.de Kontakt aufnehmen.

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Foto/ Repro: Annette Zoepf Zwischen den beiden Fotos liegen 82 Jahre: Das obere zeigt Helmut Daubermann heute vor der Löweneck-schule. Mithilfe des unteren Fotos von 1936, als Daubermann (obere Reihe, Sechster von links) in der 3. Klasse war, will er weitere Mitschüler finden. Dass es aufgrund des hohen Alters nur noch sehr wenige sein werden, ist ihm bewusst.

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