Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein 92-Jähriger sucht seine Mitschüler
Helmut Daubermann will ein Klassentreffen organisieren. Er wurde 1933 in der Löweneck-schule in Oberhausen eingeschult und ist für einen Vormittag in seine alte Heimat zurückgekehrt
Lange war Helmut Daubermann nicht mehr in dem Viertel, in dem er als Kind gelebt hat. Doch als er an diesem Wintertag vor der Löweneck-schule in Oberhausen steht, werden die Erinnerungen schlagartig wach. Er zeigt auf den Eingang: „Hier sind immer die Mädchen reingegangen.“Daubermanns Blick schweift zu dem orange gestrichenen Häuschen gegenüber: „Und hier war ein Laden, in dem wir unsere Guzzle gekauft haben. Wenn wir mal Geld hatten.“
Heute gilt Oberhausen als eher arm. Dass Helmut Daubermann als Kind jeden Pfennig wie einen Schatz hütete, lag weniger an der Sozialstruktur, sondern war der Zeit geschuldet: Er kam 1933, im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, in die Schule. Seine gesamte Schulzeit war vom Krieg geprägt und von Lehrern, die sich dem Regime unterwarfen.
Mit Erinnerungen an den Krieg will sich der Rentner nicht lange aufhalten. Daubermann kehrt an seine alte Schule wegen eines ungewöhnlichen Wunsches zurück. Der 92-Jährige will ein Klassentreffen organisieren, das erste überhaupt. „Ich habe keinen meiner Mitschüler je wieder gesehen“, sagt er. Der Wunsch, den einen oder die andere nach so langer Zeit wiederzusehen, kam in ihm auf, als er in seinem jetzigen Zuhause in Neusäß alte Bilder durchstöberte und auf ein Klassenfoto aus dem Jahr 1936 stieß.
Das Bild zeigt 39 überwiegend ernst dreinblickende Kinder, nur wenige grinsen in die Kamera. Die Mädchen tragen Kleider, fast alle Jungs kurze Lederhosen, nicht aber Helmut, der in der hinteren Reihe steht und mit einem Pulli bekleidet ist. Rechts neben seiner Klasse steht mit unbewegter Miene der Lehrer Maikörner. So streng er auf den Betrachter wirkt, so streng war er auch im Unterricht. Sechs Tatzen auf die Hand habe es als Strafe gegeben oder Schläge auf das Hinterteil, erinnert sich Daubermann. Körperliche Züchtigungen seien damals an der Tagesordnung gewesen, auch für Helmut. „Ich war kein sonderlich aufmerksamer Schüler.“
Als er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie aus der Schönspergerstraße in den Bärenkeller zog, hielt er bis zum Abschluss nach der 8. Klasse der Löweneck-schule die Treue. Das Gymnasium blieb dem jungen Daubermann verwehrt. Nur drei Mitschüler, darunter der Lehrersohn, durften wechseln. „Dabei hätten wir so viele Gescheite gehabt, die wären alle Professoren geworden.“Auch er selbst hat ohne Abitur als gelernter Fernmeldetechniker seinen Weg gemacht, sich mit dem Flugschein einen großen Traum erfüllt und für sein Engagement in der evangelischen Kirche das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen.
All das rückt freilich in den Hintergrund, als der 92-Jährige seine alte Schule betritt und die Treppen in den zweiten Stock hinaufsteigt. Für den langen Gang nimmt sich Daubermann Zeit, entdeckt die Garderobenschränke. „Solche hatten wir auch, nur mit Gitter vornedran.“Als ein junger Lehrer eine Tür öffnet, spitzelt Daubermann neugierig hinein. Das sei sein Klassenzimmer gewesen, meint er und korrigiert sich nach kurzem Überlegen. „Genau an dieser Stelle, aber einen Stock tiefer.“
Nach weiteren 50 Metern steht er vor Britta Siemers Tür. Die Rektorin nimmt sich für den besonderen Besucher Zeit. Sie hat sogar noch einen Siebtklässler dazugebeten, den 14-jährigen Christian, der wie die große Mehrheit der Löweneckschüler für das multikulturelle Oberhausen steht: Christian ist vor vier Jahren mit seiner Familie aus Rumänien ausgewandert, hat aber ungarische Wurzeln. Der Teenager im bunten T-shirt und der Gast, der sein Ururgroßvater sein könnte, verstehen sich auf Anhieb. „Zu meiner Zeit gab es an der Schule nur Deutsche“, erzählt Daubermann.
Wie viele Kinder damals die Klassenzimmer bevölkerten, weiß der Senior nicht. Heute besuchen rund 450 Schüler aus mehr als 25 Nationen die Löweneck-schule, in der sich zumindest äußerlich in all den Jahren gar nicht so viel verändert hat. Voraussichtlich im nächsten Sommer wird die anno 1904 erbaute Bildungsstätte zur Großbaustelle. Dann soll sie für rund 16 Millionen Euro generalsaniert werden. Mehrere Jahre sind dafür veranschlagt. Helmut Daubermann hofft, dass er vor den Beginn der Arbeiten nochmals seine alte Schule besuchen kann. Die Einladung von Rektorin Siemer steht. Und sie gilt auch für die Klassenkameraden, die sich bei dem 92-Jährigen in den nächsten Tagen vielleicht melden.
OKontakt Wer 1933 an der Löweneckschule eingeschult wurde und in Daubermanns Klasse ging, kann mit ihm unter Telefon 0821/483999 oder E-mail h.daubermann@t-online.de Kontakt aufnehmen.