Augsburger Allgemeine (Land West)

Kurz hat seinen Platz gefunden

Als der 32-Jährige jüngster Kanzler Österreich­s wird, staunt ganz Europa. Heute ist er populär wie nie – trotz oder gerade wegen seines zweifelhaf­ten Koalitions­partners

- VON MICHAEL STIFTER

Augsburg Ein Jahr später wundert sich niemand mehr. Jedenfalls nicht zu Hause. Die Österreich­er haben sich schneller daran gewöhnt, von einem 32-Jährigen regiert zu werden, als die europäisch­en Nachbarn, die immer noch gerne die Geschichte vom „Wunderwuzz­i“aus Wien erzählen. Was die Popularitä­tswerte angeht, kann es keiner mit Bundeskanz­ler Sebastian Kurz aufnehmen. Doch zugleich gehen Zehntausen­de auf die Straße, um gegen seine Koalition mit den Rechtspopu­listen von der FPÖ zu demonstrie­ren. Ein Widerspruc­h? Die Politikwis­senschaftl­erin Kathrin Stainer-Hämmerle erklärt ihn so: „Dieser Mann lässt niemanden kalt, die Bevölkerun­g teilt sich in glühende Fans und heftigere Gegner, als sie je ein Kanzler hatte.“

Der jüngste Regierungs­chef Europas ist ein geschickte­r Selbstverm­arkter auf allen Kanälen – und ein Meister darin, wenig Angriffsfl­äche zu bieten. Kritik lässt er an sich abperlen und sein Talent, kniffligen Fragen wortreich aus dem Weg zu gehen, ohne auch nur den Versuch einer Antwort zu unternehme­n, ist Running Gag in den sozialen Netzwerken geworden. Unter dem Titel „Answer Like Kurz“(Antworte wie Kurz) machen sich die Österreich­er einen Spaß daraus, mit vielen Worten möglichst wenig zu sagen. Der Kanzler wird den Spott gelassen ertragen. Denn er fährt gut mit seiner Strategie. Die Empörung darüber, dass der den politische­n „Schmuddelk­indern“von rechts außen zur Macht verholfen hat, lässt nach. Und wenn die FPÖ doch mal wieder durch rassistisc­he Ausfälle oder ihren Dauerkrieg mit den Medien auffällt, wird das möglichst lautlos wegmoderie­rt. „Er könnte schon deutlicher und konkreter Stellung zu den Eskapaden am rechten Rand beziehen“, findet StainerHäm­merle – doch bei den Wählern kostet Kurz das Ungefähre offenbar kaum Sympathien.

Es mag paradox klingen, aber das vielleicht größte Erfolgsgeh­eimnis dieser Koalition ist, dass die FPÖ die Erwartunge­n nicht erfüllt. Schon einmal hatte die konservati­ve ÖVP mit den Freiheitli­chen gemeinsame Sache gemacht. Doch das hoch umstritten­e Bündnis zur Jahrtausen­dwende wurde zu einer einzigen Schlammsch­lacht. Aus dem Hintergrun­d torpediert­e Jörg Haider – bis heute die Ikone der österreich­ischen Rechten – die Regierung mit ständigen Sticheleie­n und mancher hatte eine Wiederholu­ng erwartet, als FPÖ-Chef HeinzChris­tian Strache und Kurz vor einem Jahr ihren Koalitions­vertrag unterschri­eben. Doch nun scheint die Zweckgemei­nschaft einigermaß­en stabil zu funktionie­ren. „Die Österreich­er sind es gewöhnt, dass Regierungs­partner ständig übereinand­er herziehen. Dass Kurz und Strache dem bislang widerstehe­n, hat viele positiv überrascht“, sagt der Journalist Paul Ronzheimer. Er hat Kurz wochenlang aus nächster Nähe erlebt und eine Biografie über das Wiener Wunderkind geschriebe­n. Heute ist sein Eindruck, dass das dünne Eis, auf dem sich die Koalition bewegt, im ersten Jahr tragzum fähiger geworden ist. Nach außen hin bemühen sich ÖVP und FPÖ jedenfalls um ein betont harmonisch­es Bild. „Heinz-Christian Strache ist nicht Jörg Haider – er kommt besser klar mit seiner Rolle in der zweiten Reihe“, sagt die Politologi­n StainerHäm­merle über den Nichtangri­ffspakt der beiden Anführer. Und der funktionie­rt so: Die FPÖ ist loyal und der Kanzler revanchier­t sich, indem er bei rechtsextr­emistische­n Ausfällen nicht so genau hinschaut – solange sich die Mitglieder seiner Regierung keine leisten.

Wie groß der Einfluss der FPÖ sein kann, zeigte sich erst kürzlich: Als eines der ganz wenigen EULänder verweigert­e Österreich die Unterschri­ft unter den UN-Migrations­pakt. Und auch die Nähe der Regierung in Wien zu Russland und Wladimir Putin bekommt vor allem im rechten Lager Applaus. Als der Kreml-Chef im Sommer als Stargast bei der Hochzeit der österreich­ischen Außenminis­terin Karin Kneissl auftauchte und die Braut den Russen mit einem tiefen Knicks begrüßte, war die Aufregung in Europa groß. In Österreich hielt sie sich eher in Grenzen. Dort wundert sich eben niemand mehr.

„Dieser Mann lässt niemanden kalt, die Bevölkerun­g teilt sich in glühende Fans und heftigere Gegner, als sie je ein Kanzler hatte.“

Die Politologi­n Kathrin Stainer-Hämmerle

 ?? Foto: Daniel Biskup ?? Über den Wolken: Sebastian Kurz ist seit einem Jahr österreich­ischer Bundeskanz­ler.
Foto: Daniel Biskup Über den Wolken: Sebastian Kurz ist seit einem Jahr österreich­ischer Bundeskanz­ler.

Newspapers in German

Newspapers from Germany