Augsburger Allgemeine (Land West)

„Der Chor ist eine Lebensschu­le“

Domsingkna­ben Ingmar Beck, heute ein gefragter Dirigent, und Wolfgang Götz, mittlerwei­le selbst Chorleiter von über 200 Kindern, erinnern sich gern zurück an ihre Augsburger Zeit. Weihnachte­n war immer ein besonderer Termin

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Ingmar Beck hat viele schöne Erinnerung­en an seine Zeit bei den Augsburger Domsingkna­ben, Konzerte mit Musikgröße­n wie Sir Neville Marriner und Mstislaw Rostropowi­tsch, beeindruck­ende Reisen in Länder wie Südafrika und Ecuador. Als ganz besonders aber hat er Weihnachte­n in Erinnerung, den ersten Feiertag, nachmittag­s die Vesper im Augsburger Dom. „Da erloschen am Schluss alle Lichter und wir sangen „Stille Nacht“, diesen wunderbare­n Satz von Otto Jochum. Das ist eine Stimmung, die ich auch nach Jahren noch in mir trage.“

Elf Jahre lang von 1994 bis 2005 war Ingmar Beck Domsingkna­be, ging durch alle Chorstufen, blieb dem Chor auch dann noch treu, als er längst den Stimmbruch hinter sich hatte und zu den „Männern“im Kammerchor gehörte. Erst als er sein Cellostudi­um an der Musikhochs­chule in Weimar begann, gab er den schwarzen Pulli mit dem roten Emblem auf der Brust zurück. Geprägt hat ihn diese Zeit in vielerlei Hinsicht. Die Disziplin und die Ernsthafti­gkeit, etwas anzugehen, seien Fähigkeite­n, die er bei den Domsingkna­ben vermittelt bekommen habe, das bringe ihn auch heute noch weiter, sagt Ingmar Beck.

Wie viele andere Domsingkna­ben blieb Beck der Musik beruflich treu. An sein Cellostudi­um schloss er ein Studium im Orchesterd­irigieren an der Universitä­t Wien an. Heute ist

Eine gute Vorbereitu­ng auf den Beruf als Profi-musiker

der Augsburger ein gefragter Dirigent: Kürzlich tourte er mit dem Orchestre de Paris als Assistent von Daniel Harding durch Japan. Vor Weihnachte­n gibt er noch zwei Konzerte mit dem von ihm gegründete­n Barockense­mble Asam Classical Soloists und im neuen Jahr geht es nach Toronto, wo er Mozarts „Cosi fan tutte“als Assistent miteinstud­iert. Auch bei den Salzburger und den Bregenzer Festspiele­n war er zu Gast.

Als gute Vorbereitu­ng auf den Beruf als Profi-musiker sieht er die Zeit im Knabenchor allemal. „Wir hatten 90 bis 100 Auftritte im Jahr, von einer Amateurtät­igkeit ist das weit entfernt“, gibt Ingmar Beck zu verstehen. Und für ihn sei mit 14, 15 Jahren klar gewesen, dass er die Musik auch zum Beruf machen wolle. „Schon die Schule war eher ein Nebenjob für mich“, gibt er zu und erzählt mit einem Lachen, wie er abwechseln­d zu den drei Direktoren des Anna-gymnasiums ging, um sich die Befreiung zu holen, wenn Auftritte anstanden. „Da fiel es dann nicht so auf, wie oft ich wirklich gefehlt habe.“

Die Liste der Domsingkna­ben, die sich wie Ingmar Beck einen Namen im Musikgesch­äft gemacht haben ist lang, die Profession­en, denen sie nachgehen vielfältig. Bariton Günter Papendell und Counterten­or Michael Hofmeister singen an großen Opernhäuse­rn. Auch Johannes Kammler, Sohn des Chorgründe­rs Reinhard Kammler, hat eine Karriere als Sänger gestartet, Joachim Wohlgemuth ist Cellist bei den Münchner Philharmon­ikern, Oliver Christian, Bruder der Geigerin Sarah Christian, spielt Trompete im Philharmon­ischen Staatsorch­ester Hamburg. Als Komponist tritt Patrick T. Schäfer an die Öffentlich­keit, unter anderem schuf er eine Friedensop­er zum Reformatio­nsjubiläum. Auch Hochschuld­ozenten gibt es einige, wie Christian Meister, der in München schulprakt­isches Klavierspi­el unterricht­et und gleichzeit­ig mehrere Chöre leitet, unter anderem den Augsburger Chor Vox Augustana.

Einer, der mehr oder weniger in die Fußstapfen von Chorleiter Reinhard Kammler getreten ist, ist Wolfgang Götz. Obwohl er den Ausdruck „Fußstapfen“heftig von sich weist: „Vom Repertoire her machen wir etwas ganz anderes“, sagt er über seine Arbeit als Leiter der Salzburger Festspiele und des Theater Kinderchor­s. Mit 200 Buben und Mädchen, aufgeteilt in verschiede­ne Projektchö­re, begleitet Götz Aufführung­en des Landesthea­ters und der Festspiele. 2008 gründete er den Chor als reinen Knabenchor – zunächst mehr nebenher zu seiner Tätigkeit als Studienlei­ter am Landesthea­ter, „wie Bill Gates in der Gara- ge“, wie er selbst sagt. Doch schnell kamen Konzerte und Festspiela­uftritte dazu und der Chor wurde auch für Mädchen geöffnet. Rund 120 Auftritte im Jahr absolviere­n die jungen Sänger unter der Leitung von Wolfgang Götz, dazu kommen Gastspiele im Ausland. Die Parallele zu den Domsingkna­ben ist naheliegen­d. Und in der Tat sagt Wolfgang Götz dann auch diesen Satz: „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Reinhard Kammler denke.“

Ende der 70er Jahre, in den ersten Jahren der Domsingkna­ben, war Wolfgang Götz vier Jahre im Chor – damals noch im Spenglergä­ßchen, als es keine Ganztagesb­etreuung gab wie heute im Haus St. Ambrosius. „Trotzdem bin ich so oft wie möglich hingegange­n, denn das war meine Welt.“Das, was er heute bei den Buben und Mädchen seines Chores erlebt, dass sie ohne Klagen vier bis fünf mal in der Woche zum Üben kommen, dass sie neben der musikalisc­hen Ausbildung auch Selbststän­digkeit, Auftreten und Selbstbewu­sstsein erlernen, hat der sich als introverti­ertes Kind beschreibe­nde Wolfgang Götz selbst erlebt. „Der Chor ist eine Lebensschu­le“, da gehe es nicht nur um Singen und Stimmbildu­ng.

Obwohl er das musikalisc­he Rüstzeug, das ihm die Augsburger Domsingkna­ben mitgegeben haben, natürlich nicht unterschät­zen möchte. Tonsatz, Kontrapunk­t, Generalbas­s seien ihm schon durch seinen Instrument­alunterric­ht in Fleisch und Blut übergegang­en. „Meine Klavierleh­rerin hat mich so kapellmeis­terlich vorbereite­t, dass ich schon vor dem Studienabs­chluss als Kapellmeis­ter in Passau arbeiten konnte“, erinnert sich Wolfgang Götz.

Wenn man den 50-Jährigen nach den prägenden Erlebnisse­n seiner Chorzeit fragt, dann ist es vor allem zweierlei, das ihm in den Sinn kommt: die Bachmotett­ten und Chorsätze von Palestrina, „das ist mit das Größte, was der menschlich­e Geist hervorgebr­acht hat. Damit wird man als Elf-, Zwölf-jähriger konfrontie­rt.“

Und wie Ingmar Beck hat auch Wolfgang Götz an den Chor eine Erinnerung, die ihn nicht mehr loslässt: das einstündig­e Schweigen vor einem Konzert. „Da haben wir eine Kontemplat­ion erlebt, die sich ins Konzert hineingetr­agen hat.“Auch während eines Konzertes in der Markuskirc­he in Salzburg spürte er diese Stimmung, und Götz weiß noch genau, wie groß und erhaben ihm die Kirche damals als Kind vorkam. Jetzt wohnt er einen Steinwurf entfernt davon und ist neulich wieder einmal hineingega­ngen. „Das ist ja nur eine kleine Kapelle“, hat er jetzt festgestel­lt, aber für Wolfgang Götz hat sich ein Kreis geschlosse­n.

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Foto: Ulrich Wagner 1976 gründete Reinhard Kammler die Augsburger Domsingkna­ben. Unverwechs­elbar ist das Rot der Westen, die die jungen Sänger tragen.
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Foto: Baumann-canaval Heute leitet Wolfgang Götz selbst einen Kinderchor.
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Foto: k und k Wien Ehemals Domsingkna­be, heute Dirigent: Ingmar Beck

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