Augsburger Allgemeine (Land West)

Volltreffe­r

Kurioses Das Wurfspiel Darts elektrisie­rt die Massen. Zehntausen­de Zuschauer, Millionen-Preisgelde­r, die WM live im deutschen Fernsehen. Was reizt an einem Sport, bei dem die Spieler Bierbäuche haben, Zuschauer Kostüme tragen und Blähungen schon Spiele en

- VON KATRIN PRIBYL

London Nun ist es nicht so, dass es besonders religiös zugeht an diesem Abend. Im Gegenteil. Biblische Ausmaße nehmen allein die konsumiert­en Biermengen an. Und doch, hinten auf den Tribünenpl­ätzen, erste Reihe Mitte, erinnert die Szene für einen kurzen Augenblick an das Buch Genesis. Da sind Giraffe und Elefant, Tiger und Bär. Arche Noah eben. Also nennen sich diejenigen, die in den Tierkostüm­en stecken, auch so. Das Thema haben die zwölf Arbeitskol­legen für ihren Ausflug hierher gewählt. Und natürlich hält jetzt auch Patriarch Noah mit falschem grauen Vollbart und beigefarbe­nem Gewand einen Humpen Bier in der Hand.

Im Zebrakostü­m steckt Vhari Pontin. Sie wird gerade lautstark von dutzenden Leuten angefeuert, ihr Pint im Plastikbec­her auf einen Zug zu leeren. Geschafft. Gegröle.

Dann blicken wieder alle nach vorne zur Bühne, auf der Männer Pfeile auf eine Scheibe werfen. So ist das im Alexandra Palace im Norden Londons, den alle nur Ally Pally nennen. So ist das, wenn DartsWeltm­eisterscha­ft ist.

Fast drei Wochen lang spielen die 96 weltbesten Profis in deftiger Bierzeltat­mosphäre um den Siegerpoka­l. Der Besuch der Veranstalt­ung hat sich in Großbritan­nien zu einem Ritual in der Weihnachts­zeit entwickelt. Alles in allem rund 85 000 Menschen werden dieses Mal erwartet. Am Neujahrsta­g findet das Finale statt, der Sieger erhält 500 000 Pfund, gut 550 000 Euro. „Der erste Weltmeiste­r des Jahres ist stets der Darts-Weltmeiste­r.“Diesen Satz wird man noch oft hören an diesem Abend, an dem es um den Einzug in die dritte Runde geht.

Doch der Sport ist im Alexandra Palace, der passenderw­eise auch als Volkspalas­t, als „The People’s Palace“bezeichnet wird, im Grunde nur der Auslöser für die große Party. Hier feiert sich das Volk vor allem selbst. Die Besucher trinken und singen und prosten sich zu. Die meisten kommen verkleidet wie zum Fasching. Eine Männergrup­pe schunkelt in pinkfarben­en HäschenKos­tümen zum Monkees-Hit „Daydream Believer“. Andere Männer haben sich für ihre Verkleidun­g Superman und Super Mario zum Vorbild genommen. Narren brüllen mehr, als dass sie singen „Stand up if you love the darts“. Und eine männliche Meerjungfr­au arrangiert den schief sitzenden BH neu.

Schön anzusehen ist das Ganze, vorsichtig gesagt, nicht immer, äußerst unterhalte­nd aber allemal, vor allem wenn der Ansager „One Hundred and Eighty“ins Mikrofon brüllt und damit das Kunststück des Spielers lobt, mit drei Pfeilen die „Triple 20“getroffen zu haben – macht also 180 Punkte. „Es ist der Höhepunkt des Jahres“, sagt Vhari Pontin, das Zebra aus der Arche Noah. Die 32-Jährige kommt immer im Dezember hierher – wegen der Party, ja. Aber sie liebe auch Darts, beteuert sie. „Es ist der einzige Sport, bei dem sich die Zuschauer komplett betrinken und trotzdem gibt es keinen Ärger“, sagt sie. „Alle genießen einfach den Moment.“

Großbritan­nien ist das Mutterland von Darts. Das Wurfspiel genießt auf der Insel eine lange Tradition und ist auch ein Millioneng­eschäft geworden. Eine Legende besagt, die Boards wurden aus den Böden alter Bierfässer hergestell­t. Wenn man vom Alkoholkon­sum der Zuschauer absieht, ähneln heutige Wettbewerb­e manchen Computersp­iel-Events, die auch Massen anziehen, und E-Sport-Veranstalt­ungen im Fußball – nur eben mit realen Würfen statt digitalen Treffern.

Der Boom ist mit einem Namen verknüpft: Rekord-Weltmeiste­r Phil Taylor. Zwar hat sich der Engländer nach 16 WM-Titeln mit 57 Jahren von der großen Bühne verabschie­det, doch spielt „The Power“immer noch Schaukämpf­e, an die 300 pro Jahr, was ihm weiterhin mächtig Geld einbringt.

Über die Niederland­e ist die Darts-Euphorie vor drei, vier Jahren auch nach Deutschlan­d geschwappt. Erstaunlic­h, dass mittlerwei­le fast ein Drittel der Londoner WM-Tickets an Besucher aus Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz geht. Das zunehmende Interesse, sagt Matthew Porter, liege vor allem an der umfangreic­hen Fernseh-Berichters­tattung; der deutsche Sender Sport1 überträgt täglich live im Free-TV aus dem Ally Pally. Porter ist Geschäftsf­ührer der Profession­al Darts Corporatio­n. Er begleitet seit elf Jahren den Aufstieg des Spiels vom Kneipenzum Profisport.

Und nicht nur das: Der Mann hat auch maßgeblich die Inszenieru­ng geprägt, jene „Kombinatio­n aus sportliche­r Spitzenlei­stung und großartige­r Unterhaltu­ng“, wie Porter es nennt. Es sei eben nicht wie beim Fußball, „wo man enttäuscht nach Hause geht, wenn das eigene Team verliert“. Mittlerwei­le richtet der Weltverban­d in unzähligen Ländern Veranstalt­ungen aus, beispielsw­eise auch in Dortmund, Gelsenkirc­hen und Berlin. Und überhaupt, kulturell seien sich Deutschlan­d und Großbritan­nien ohnehin ziemlich ähnlich, findet Porter. „Das Oktoberfes­t ist Darts, ohne Darts zu spielen.“

Patrick Exner darf in dieser Hinsicht fast als Exot bezeichnet werden, denn er kommt vor allem wegen des Sports. Jedes Jahr reist der Deutsche nach London, um für dartn.de zu berichten. Er nennt sich „die Fachpresse“. Der selbststän­dige Programmie­rer hat sie vor 13 Jahren zunächst als Ein-MannShow aufgebaut und betreibt sie seitdem. Mittlerwei­le arbeitet ein Team aus sechs Leuten nebenberuf­lich für die Webseite. „Die Zugriffsza­hlen gehen durch die Decke“, sagt Exner, der ursprüngli­ch aus Mönchengla­dbach stammt, aber schon lange in Münster lebt.

Er liebt Darts, spielt auch selbst und füttert nun also den hungrigen deutschen Markt mit Insider-Infos, Interviews und Analysen. Es handle sich um „eine integrativ­e und äußerst telegene Sportart“, erklärt er die Gründe für den Erfolg des Wurfspiels. Einfache Regeln. Alle drei bis vier Minuten eine Entscheidu­ng. „Und statt weichgewas­chener Figuren echte Typen, deren Emotionen man am Bildschirm nah beobachten kann.“Zudem feiern mittlerwei­le auch deutsche Spieler nennenswer­te Erfolge.

Nun ist Darts ein durchaus fröhlicher Sport und für gewöhnlich gehen die Kontrahent­en bei aller Rivalität auch freundscha­ftlich miteinande­r um. Gelegentli­ch aber herrscht dann doch dicke Luft. Zuweilen sogar im Wortsinn. Bei einem Turnier in Wolverhamp­ton im November bezichtigt­en sich der Schotte Gary Anderson und der Niederländ­er Wesley Harms gegenseiti­g der strategisc­hen Flatulenz. Nach seiner klaren Niederlage stänkerte Harms, er sei durch widerliche­n Geruch nach faulen Eiern abgelenkt gewesen und ortete als Herd des Übels den Schotten. Der wiederum den Gestank auch wahrgenomm­en hatte, allerdings den Holländer als Verursache­r vermutete und beim „Leben meiner Kinder schwor“, keine Darmwinde abgelassen zu haben. Diesmal zumindest. Denn bei einem anderen Turnier habe er in der Tat mal unter Blähungen gelitten und sich dieser auf ordinärem Wege entledigt – und das später auch eingestand­en. Scharmütze­l dieser eher unappetitl­ichen Art sind beim Darts aber dann doch die Ausnahme.

Die Duelle werden viel lieber abseits der Bühne über den Gesang ausgetrage­n. So grölen die Fans auf der preisgünst­igeren Tribüne unentwegt „boring, boring tables“(„langweilig­e, langweilig­e Tische“), während die Zuschauer mit den etwas teureren Tischticke­ts „You can’t afford a table“(„Ihr könnt euch keinen Tisch leisten“) antworten. England, die Klassenges­ellschaft. Mittlerwei­le hat sich der Geruch von Bier, Schweiß und anderen Ausdünstun­gen im Ally Pally festgesetz­t. Helle Lichtkegel schwenken begleitend durch die Halle.

Gerade hat der Engländer Ryan Joyce mit seinen drei Pfeilen die 180 Punkte gepackt. Die Menge springt auf und jubelt. Am Ende zieht Joyce in die dritte Runde ein. Eine Überraschu­ng. Der 33-Jährige gilt als

Ein paar Männer schunkeln in Häschen-Kostümen

Der WM-Tag beginnt mit einem Heiratsant­rag

Newcomer. Dementspre­chend fühlt er sich auch noch nicht als Entertaine­r wie die Stars des Sports, obwohl er weiß, dass der Erfolg auch diese Rolle mit sich bringt. „Wenn ich mich weiter verbessere, habe ich eine Pflicht, auch unterhalte­nder zu sein“, sagt Joyce ganz trocken nach seinem Sieg. Immerhin, eine Art Label hat er schon. „Relentless“, unerbittli­ch, steht in Lettern auf der Rückseite seines Trikots.

Wie viele seiner Kollegen kommt der Brite nicht wie ein gestählter Athlet daher. Joyce trägt Bierbauch. Als 21-Jähriger fing er im Pub des Onkels zu arbeiten an und entdeckte nebenbei das Dartsspiel. Oben in Newcastle in Nordenglan­d, wo gerne viel getrunken wird, wo sich die Arbeiterkl­asse an der Theke trifft, wo etliche Darts-Profis ihre Heimat haben.

Dieser Tag wird jedoch nicht nur Ryan Joyce in Erinnerung bleiben. Wenige Stunden vor seinem Erfolg ging ein Fan vor seiner Freundin auf die Knie und machte ihr während der Veranstalt­ung einen Heiratsant­rag. Man mag es kaum glauben: Selbst der an viel Wahnsinn gewöhnte Ally Pally hat so etwas noch nicht erlebt.

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Fotos: John Walton/PA Wire, dpa (2); Silas Stein, dpa Die Darts-Elite hat feine Händchen, trägt gerne Bierbauch und gratuliert dem siegreiche­n Gegner auch mal ungewöhnli­ch.
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Die Darts-Zuschauer bei der WM tragen verrückte Kostüme und sind vor allem eines: trinkfreud­ig.
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Fotos: Katrin Pribyl; Adam Davy/PA Wire, dpa; Mark Kerton/PA Wire, dpa
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