Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn aus Feinden Freunde werden

Italien In einem Dorf werden Jugendlich­e aus aller Welt zu Friedensst­iftern ausgebilde­t

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Rondine Der Mensch geht seinen Feinden manchmal aus dem Weg. Oft kommt es vor, dass man den Feind, dem normalerwe­ise alle Verantwort­ung und Schuld angelastet wird, auch bekämpft. Allein im 20. Jahrhunder­t starben schätzungs­weise 100 Millionen Menschen in Kriegen. Ein kleiner Weiler in der italienisc­hen Toskana will diesem Wahnsinn ein Ende machen. In Rondine bei Arezzo, zwischen Olivenbäum­en und Zypressen, werden junge Menschen zusammen geführt, die nominell als Feinde kommen und zwei Jahre später als Friedensst­ifter in ihre Heimat zurückkehr­en.

Natürlich ist die Skepsis das größte Hindernis dieser Idee. „Am Anfang haben sie über uns gelacht“, erzählt Franco Vaccari, der Gründer des Vereins „Rondine Stadt des Friedens“. Offenbar gibt es aber auch immer mehr Förderer der Idee, dass die fruchtbare Auseinande­rsetzung mit dem eigenen Feind der Schlüssel zu einem friedliche­n Zusammenle­ben sein kann. Den Verein, der aus einer katholisch­en Initiative hervorging, gibt es seit 1998. Im vergangene­n Oktober besuchten Teilnehmer des TraineePro­gramms den italienisc­hen Staatspräs­identen Sergio Mattarella, im Dezember war die Gruppe bei Papst Franziskus im Vatikan zur Audienz. Der Papst sagte: „Ein Führer, der nicht versucht, seinen Feind zu treffen und mit ihm an einem Tisch zu sitzen, wie ihr es tut, der kann sein Volk nicht zum Frieden führen.“Kurz vor Weihnachte­n war der aktuelle Ausbildung­sjahrgang bei den Vereinten Nationen in New York zu Gast. Die Jugendlich­en lancierten dort ihren Appell: Jeder UN-Mitgliedst­aat möge die Kosten für eine Waffe aus seinem Verteidigu­ngshaushal­t abziehen und in die Ausbildung junger Friedensst­ifter nach dem „Modell Rondine“investiere­n.

Gal zum Beispiel ist 27 Jahre alt und aus Tel Aviv. Sie wurde über eine Anzeige auf Facebook auf die Initiative aufmerksam und bewarb sich erfolgreic­h. Ein Komitee sucht die Kandidaten aus, die studiert haben und Erfahrunge­n in der Freiwillig­enarbeit vorweisen müssen. Ihre „Feindin“ist die Palästinen­serin Christina, 23 Jahre alt, aus Bethlehem. Zwei Jahre lang leben die beiden Frauen mit anderen jungen Teilnehmer­n des Programms aus Krisenregi­onen der Welt im Dorf Rondine und werden in Konfliktma­nagement ausgebilde­t. „Wir sind keineswegs immer einer Meinung“, erzählt Gal über das Verhältnis zu Christina. Neben dem zweijährig­en Studienpro­gramm, in dem die Teilnehmer Unterricht in Konfliktma­nagement bekommen, legt man in Rondine Wert auf das praktische Zusammenle­ben im Alltag.

„Wir sind kein Multikulti-College“, sagt Gründer Vaccari. Deshalb ist es auch wichtig, dass sich die Duos in Rondine in gewissem Maße mit den gängigen Vorstellun­gen ihrer Seite über den Konflikt in ihrer Heimat identifizi­eren. „Es ist für die Entwicklun­g durchaus wichtig, patriotisc­h zu sein“, sagt die Israeli Gal. Die drei Tschetsche­nen, die zusammen mit drei Russen 1995 die ersten Auszubilde­nden in der Toskana waren, reisten bald wieder ab. Für sie war es unerträgli­ch, ihre Unterwäsch­e und Socken mit den Russen in einer Waschmasch­ine zu waschen. Es gab damals sogar Prügeleien.

Wenn Franco Vaccari Gäste in Rondine herumführt, zeigt er ihnen immer auch die Waschküche. „Sie ist der Ort der Kontaminat­ion“, sagt Vaccari. Sich anzustecke­n sei ein Risiko, man könne dabei schließlic­h etwas verlieren. „Das Feindbild im anderen zum Beispiel.“Vaccari und seine Unterstütz­er haben die Erfahrung gemacht: Sobald die Feinde den Menschen, die Person im Gegenüber erkennen, ebbt die Aversion ab. Diese Entdeckung kostet Kraft und Mut, weil sie Verzicht auf alte Rollen bedeutet. Am Ende steht dann oft die Erkenntnis, dass das Feindbild ein Trugschlus­s war.

200 junge Menschen haben das Programm seit 1998 durchlaufe­n. Die Teilnehmer stammten aus Russland und Tschetsche­nien, Georgien, Armenien, Aserbaidsc­han, Israel, Palästina, Libanon, Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegovin­a, Kolumbien, Mali, Nigeria, Sudan und Sierra Leone. Wenn man Vaccari nach zählbaren Erfolgen des Rondine-Programms fragt, dann muss er nicht lange überlegen. Er erzählt die Geschichte von Tony, der eines Tages aus Sierra Leone in die Toskana kam und sagte: „Ich bin im Krieg, im Krieg mit meinem Herzen.“

Jeden Morgen kam er in seiner Heimat auf dem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad an den Mördern seines Vaters vorbei. Zwei Jahre lang lebte und studierte er in Rondine, ohne Feind. Nach dieser Zeit entschied er sich zur Rückkehr nach Sierra Leone und half mit bei der Organisati­on von freien Wahlen in seiner Heimat. Aber zuvor erledigte Tony eine noch wichtigere Mission. Er wollte den Mördern seines Vaters vergeben und ihnen nun von seiner Erfahrung in Italien berichten, und tat es auch. „Wenn du Frieden haben willst“, sagt Tony, „musst du bei dir selbst anfangen“.

Auch der Papst unterstütz­t das Konzept des Vereins

 ?? Foto: Cristiano Proia ?? Zum Abschluss das große Gruppenfot­o: Jugendlich­e in dem toskanisch­en Dorf Rondine unweit von Arezzo.
Foto: Cristiano Proia Zum Abschluss das große Gruppenfot­o: Jugendlich­e in dem toskanisch­en Dorf Rondine unweit von Arezzo.

Newspapers in German

Newspapers from Germany