Augsburger Allgemeine (Land West)
Kandel kommt nicht zur Ruhe
Verbrechen Vor genau einem Jahr erstach ein afghanischer Flüchtling die 15-jährige Mia. Seitdem ist das Städtchen in der Pfalz zu einem Pilgerort geworden – für Rechte, Linke und Wutbürger. Die Bewohner wehren sich mit aller Kraft
Kandel Der Tatort im grellbunten Drogeriemarkt von Kandel passt nicht zu dem grausamen Verbrechen. Hier, zwischen Kosmetikwaren und Haushaltsartikeln, tötet der Afghane Abdul D. heute vor einem Jahr seine Ex-Freundin Mia mit einem Brotmesser. „Bleib wach!“, rufen Freunde der Schwerverletzten noch zu. Vergeblich: Die 15-Jährige stirbt im Krankenhaus.
Für Kandel, eine Gemeinde mit rund 9500 Einwohnern in der Südpfalz zwischen Landau und Karlsruhe, ist die Tragödie bis heute traumatisch. Bürgermeister Volker Poß (SPD) hat immer noch keine Antwort auf seine Frage: „Wie konnte das nur passieren? Man kann es nicht verstehen.“
Ein Jahr später erinnert im Drogeriemarkt nichts an die Tat. Im Ort selbst ist das oft anders. Kein Monat vergeht ohne Aufmarsch rechter und linker Gruppen, getrennt von hunderten Sicherheitskräften. Seit der Tragödie ist Kandel im Streit um die deutsche Migrationspolitik eine Art „Ground Zero“geworden, ein Pilgerort wie New York nach dem 11. September. Auch am Jahrestag der Bluttat wird mindestens eine größere Kundgebung erwartet. „Die Stimmung ist aufgeheizt“, sagen Bewohner. Dabei bräuchte der Ort dringend Ruhe zur Trauer und zur Aufarbeitung.
Der „Fall Kandel“hat längst die Bundespolitik erreicht. Mit „Merkel muss weg“-Rufen ziehen Demonstranten allmonatlich durch die Gemeinde. Sie eine die Trauer um Mia, argumentieren sie – doch die wenigsten dieser „Wutbürger von Kandel“stammen aus dem Ort. Viele seien zugereiste Anhänger der AfD, der Reichsbürger und der Identitären Bewegung, meinen Bürger der Kommune. Sie sprechen von „importierter Empörung“. Von Aktivisten, die „versuchen, den bürgerlichen Zusammenhalt zu zerstören“, spricht auch Alexander Schweitzer, SPD-Fraktionschef im rheinland-pfälzischen Landtag. Einer der Wortführer der kritisierten Kundgebungen bestreitet das. „Ohne unsere Demonstrationen würde in Kandel niemand mehr über Mia sprechen“, meint Marco Kurz vom „Frauenbündnis Kandel“, in dem sich viele Eltern nach eigenem Bekunden gegen „Gewalt gegen unsere Kinder“engagieren. der Widerstand gegen die politische Instrumentalisierung ist im Ort gewachsen. Das Bündnis „Wir sind Kandel“ist entstanden gegen die „Flut rechter Netzwerke, die unsere Stadt derzeit überziehen“, wie die Gruppe per Facebook mitteilt. Sie sieht den Streit auch als Kampf um die Deutungshoheit über ihre Gemeinde und die Tat. Dafür ist das Bündnis mit dem „Brückenpreis“der Landesregierung in Mainz ausgezeichnet worden.
Die Hoffnung, dass nach dem Prozess gegen Abdul D. Ruhe in Kandel einkehrt, hat sich aber zerDoch schlagen. Das Landgericht in Landau hat ihn im September nach Jugendstrafrecht zu acht Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt: wegen Mordes an Mia und wegen Körperverletzung, weil Abdul D. einen Freund Mias geschlagen hatte.
Abdul D. war im April 2016 als unbegleiteter Flüchtling eingereist. Er nannte als Herkunftsland Afghanistan und gab sein Alter zunächst mit 15 Jahren an. Nach der Tat kamen Zweifel daran auf. Ein Gutachten kam zum Ergebnis, dass er zum Tatzeitpunkt mindestens 17 Jahre und sechs Monate, aber wahrscheinlich schon 20 Jahre alt war. Als Mia sich von ihm trennte, soll er sie verfolgt und bedroht haben. Die Eltern erstatteten Anzeige. Am 27. Dezember 2017 traf Abdul D. im Drogeriemarkt seine Ex-Freundin. Acht Mal stach er zu – aus Eifersucht und Rache, wie die Anklagebehörde vermutet. Prozessbeobachter schildern Abdul D. als leicht reizbar. Bei der Verhandlung verletzte er bei einem Handgemenge zwei Beamte. Vieles aus dem Prozess ist unbekannt – weil nach Jugendstrafrecht verhandelt wurde, war kein Publikum zugelassen. Wolfgang Jung, dpa