Augsburger Allgemeine (Land West)

Witzigkeit kennt keine Grenzen

Der Junge muss an die frische Luft Jetzt sind Hape Kerkelings Kindheitse­rinnerunge­n im Kino zu sehen. Caroline Link hat daraus einen erfrischen­d heiteren Film gemacht. Doch eine Szene reißt dem Zuschauer schier das Herz heraus

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Woher nimmt der Kerl das?“, haben sich Fans und Feuilleton­isten angesichts der komödianti­schen Kapriolen von Hape Kerkeling immer wieder gefragt. In seinem zweiten Buch „Der Junge muss an die frische Luft“ging Kerkeling selbst dieser Frage nach und versuchte zu erklären, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Eingebette­t in anekdotisc­hen Erinnerung­en an eine Kindheit im Ruhrpott der 70er Jahre schrieb sich der erfolgreic­he TVKomiker hier ein schweres Trauma von der Seele. Gerade einmal acht Jahre alt war er, als sich seine depressive Mutter das Leben nahm, was der Junge aus nächster Nähe miterleben musste.

Dass „Der Junge muss an die frische Luft“trotz seines schrecklic­hen Kernereign­isses über weite Strecken ein ungeheuer heiteres und in seiner Grundhaltu­ng überzeugen­d optimistis­ches Buch geworden ist – das macht die emotionale Aufrichtig­keit von Kerkelings Lebensbeke­nntnissen aus. Ein solcher Stoff erfordert bei seiner Übertragun­g auf die Leinwand eine hohe Sensibilit­ät. Drehbuchau­torin Ruth Toma („Emmas Glück“) hat Kerkelings Buch von Ballast befreit. Die lästige Erzählklam­mer, die den Bezug zur Gegenwart herstellt, ist ebenso über Bord geflogen wie die weltpoliti­schen und spirituell­en Bekenntnis­se des Autors.

Einzig und allein die Sicht des achtjährig­en Hans-Peter (Julius Weckauf) zählt in diesem Film, den Regisseuri­n Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“) hin und wieder auch kommentier­end ins Geschehen eingreifen lässt. Der Junge wächst im Schoße seiner Großfamili­e in Recklingha­usen auf. Der Vater (Sönke Möhring) ist oft auf Montage und zumeist nur am Wochenende zu Hause. So ist es an dem aufgeweckt­en Sohn, seine Mutter Margret (Luise Heyer) mit kleinen Späßen und Show-Einlagen bei Laune zu halten.

Einen steten Quell der Inspiratio­n bietet hier das direkte soziale Umfeld. Im Lebensmitt­elladen der Großmutter lässt sich die tratschend­e Nachbarsch­aft bestens studieren, aber auch die feierlusti­ge Verwandtsc­haft sorgt für kreativen Input: Die Tante, die bei jedem Fest zu ZarahLeand­er-Imitatione­n ausholt, nur um danach wegen eigener Kriegserin­nerungen in einen Heulkrampf zu verfallen. Oder Oma Änne (Hedi Kriegeskot­te), die mal so fragt: „Hans-Peter, willst du ein Pferd?“– und wenig später mit dem Jungen in der eigenen Kutsche durch Recklingha­usen fährt.

Es sind die patenten Frauen, die in dieser Familie das Sagen haben und den Jungen mit ihrem beherzten Zweckoptim­ismus prägen. Die Verwandten werden umso mehr für das Kind zum Rettungsan­ker, wie sich die eigene depressive Mutter aus der Welt zurückzieh­t – bis hin zu jener Nacht, als sie dem Sohn sagt, dass er heute bis zum Sendeschlu­ss fernsehen darf. Der Junge gehorcht misstrauis­ch, schleicht sich nachts zu ihr ins Bett und liegt neben der Mutter, die eine Überdosis Schlaftabl­etten genommen hat.

Die Szene reißt einem schier das Herz raus, gerade weil Caroline Link sie ohne verstärken­de Effekte in Szene setzt. Wie kommt ein Kind darüber hinweg? Die Antwort, die Kerkeling gibt, ist von überzeugen­der Schlichthe­it: durch die Liebe derer, die die Verantwort­ung für den Jungen übernehmen. Vor allem Oma Bertha, die mit 72 Jahren keine Minute zögert, zu dem Enkel zieht und erst einmal Rouladen kocht. Wie Kerkelings Buch ist auch der Film eine Ode an die Wirkungskr­äfte der Großfamili­e. Natürlich ist er ein ungeheuer sentimenta­les, aber auch ein ebenso aufrichtig­es Werk, von dem man sich ohne faden Nachgeschm­ack zu Tränen rühren lässt.

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Foto: Warner Bros. Der geborene Komödiant: Julius Weckauf spielt das Kind Hape Kerkeling. Mit seinen Späßen heitert er auch seine depressive Mutter (Luise Heyer) auf.
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