Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie Bobinger Fäden zu festen Bahnen werden
Wirtschaft Johns Manville behauptet sich am Weltmarkt mit großflächiger Vliesware „made in Germany“
Bobingen Martin Kleinebrecht weiß es von Partybesuchen: Erzählungen über die Herstellung von Vliesbahnen aus endlosen Polyesterfäden wirken nicht sexy. Der Produktmanager von Johns Manville (JM) in Bobingen könnte jedoch aus derselben Kenntnis über die neueste Entwicklung in der Automobilindustrie sprechen und auf großes Interesse stoßen. Auch einem Gesprächspartner aus der Baubranche oder einem Häuslebauer könnte er mit seinem Fachwissen über Produkte aus Bobingen manchen guten Tipp geben. Und in ökologisch interessierten Kreisen könnte er damit begeistern, dass JM alleine am Standort Bobingen jedes Jahr 400 Millionen leere Pet-Flaschen aus dem Wertstoffentsorgungssystem wieder einschmilzt, damit diese letztlich als Trägerschicht für Bitumenbahnen auf Flachdächern oder in Luftfiltern für Autos erneut verwendet werden.
Die Konkurrenten in der Faserindustrie finden die durch eine feine Düse aus einer warmen Kunststoffschmelze quellenden Endlosfäden jedenfalls so sexy, dass inzwischen auch Hersteller in China oder der Türkei JM Anteile am Weltmarkt abtrünnig machen wollen. Auch sie haben gelernt, die dünn zusammengepressten Fäden mit Nadeln zu einem Filz zu verweben und diesem je nach Bedarf mit einem Bindemittel Festigkeit zu geben.
Um diesen internationalen Wettbewerb geht es in der Führungsetage am deutschen Firmensitz in Bobingen. Diese sitzt im Hochparterre eines alten Backsteinbaus aus der Blütezeit der früheren Hoechst AG. Ein langer, gerader Mittelgang und sehr hohe Räume kennzeichnen diese alte Wirtschaftsarchitektur. Es fällt naturgemäß schwer, diese wohnlich zu machen oder modern wirken zu lassen. Dabei arbeitet hier keiner wie im stillen Kämmerlein, sondern ist ständig stark verzahnt mit Niederlassungen in Europa, Asien und Amerika. Der Standort Deutschland habe einen Kommunikationsvorteil, stellt Gerold Riester fest. Er managt von hier aus das Europa- und Asiengeschäft. Im Laufe eines langen Arbeitstages findet sich immer ein Zeitfenster für Telefonkonferenzen mit anderen Zeitzonen. Vormittags wird mit China Kontakt aufgenommen, bevor sich dort der Tag zu Ende neigt. Bei den Kollegen in den USA ist da noch Nacht. Sie werden bevorzugt am späten Nachmittag kontaktiert. Dann sind sie nämlich zur Hochform aufgelaufen, ehe in Bobingen bereits die Tagschicht ausläuft.
Egal, wo auf der Erde die Sonne gerade am Himmel steht, die Produktionsanlagen in Bobingen laufen immer: 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Sie abkühlen und neu anfahren zu lassen, wäre zu teuer.
Gerold Riester spürt die starken Veränderungen am Markt. Es sei ein dauerndes Auf und Ab, bedingt durch viele Einflussfaktoren. Dem müsse man sich anpassen. So ist in Bobingen ein eigenes Entwicklungszentrum angesiedelt samt Pilotanlage für Testläufe. In enger Zusammenarbeit mit der US-Konzernmutter in Denver, Colorado, werden hier für die Produktionsstandorte in Deutschland sowie für China und USA neue oder optimierte Produkte entwickelt.
Eine der häufigsten Anforderungen an neue Entwicklungen: Leichter, reißfester und energiesparender in der Herstellung sollen die Vliesbahnen und die daraus gemachten Produkte werden. Bemerkenswert für ein Unternehmen in der chemischen, beziehungsweise in der Kunststoffindustrie: Riester strebt eine zunehmende Unabhängigkeit von Erdölprodukten an. Sicher steckt Öl in allen Kunststoffen, doch wurden bei den Bindemitteln schon Alternativen gefunden: Natürliche Stärke aus Kartoffeln, Mais oder Weizen. Und wenn Vlies reißfest werden soll, werden einfach Reihen an Glasfasern eingebracht.
Die Masse der Vliese aus Bobingen verliert allerdings trotz des Recyclings geschredderter Plastikflaschen sowie aller Energieeinsparung und Erdölalternativen bald jeden Hinweis auf ökologische Bemühungen. Sie werden von den Großabnehmern mit Bitumen beschichtet und als Dachbahnen verkauft. Flachdächer mit einer Gesamtfläche von 150 Millionen Quadratmetern können damit jedes Jahr abgedichtet werden. Das entspricht einer Fläche von 21 000 Fußballfeldern. Auf solche Dimensionen und mehrere Qualitätsnachweise können die 180 Mitarbeiter in Bobingen stolz sein. Sie schätzen ihren Arbeitsplatz bei Johns Manville, sagt Gerold Riester. Es gebe wenig Fluktuation. Und sie schätzen vermutlich auch die gute Bezahlung mit übertariflichen Bonuszahlungen, ähnlich wie sie frühere Werksmitarbeiter noch aus dem Hoechst-Zeitalter in Erinnerung haben.