Augsburger Allgemeine (Land West)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (11)

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Aber Etzel drängte und drängte. Mit einer sublimiert­en Schlauheit gab er sich die Miene, wie wenn die glühende Wißbegier, die sein ganzes Wesen durchflute­te, entfacht von einer Erscheinun­g, zustrebend einem bang geahnten Ziel, wie wenn die bloß eine gewöhnlich­e Bubenneugi­er wäre. Er rückte seinen Stuhl näher zur Generalin, ergriff ihre Hand und legte sie an seine Wange. Dabei bettelte er mit Mund und Auge. Die Generalin schüttelte verwundert den Kopf. „Hör mal, Junge, du bist ja total verdreht“, zankte sie, „mir scheint, du warst in der letzten Zeit heimlich im Kino und hast dich mit den Scheußlich­keiten dort um den Verstand gebracht. Es soll ja Jungens geben, die davon ganz wild werden. Übrigens, unter uns, ich geh auch manchmal hin, verrat mich aber nicht. Na, schau mich nicht so verzweifel­t an, ich überlege eben, was ich noch von der Sache weiß. Beim besten Willen kann ich mich nicht mehr auf alles besinnen. So ein altes Gehirn ist ein Sieb mit großen Löchern. Ich will nicht nachforsch­en, woher dein Interesse stammt; es könnte mich am Ende nicht freuen. Also schön, es war eine schrecklic­he Affäre. Die Leute redeten wochenlang von nichts anderem. Um das Für und Wider erhitzten sie sich in allen Wirtshäuse­rn und Klubs. Es gab Volksauflä­ufe; an dem Tag, wo das Todesurtei­l verkündet wurde, mußte Militär ausrücken. Ich war zu der Zeit in Homburg drüben, ich erinnere mich noch, der Arzt verbot mir, die Zeitungen zu lesen. Auch nachdem der Prozeß längst beendigt und Maurizius, wie hieß er denn nur mit Vornamen?, hab’s vergessen, und Maurizius zu lebensläng­lichem Zuchthaus begnadigt war, kam die Geschichte nicht zur Ruhe. Viele glaubten steif und fest an seine Unschuld. Vielleicht bloß, weil er selber bis zum letzten Atemzug seine Unschuld beteuert hatte. Dazu kam, daß er kein gemeiner Verbrecher war. Nein, das war er nicht. Ein Mann der Wissenscha­ft, manche be- haupteten, eine Kapazität in seinem Fach. Manche wieder sagten, ein Windbeutel. Immerhin hatte er es trotz seiner Jugend, ich glaube, er war noch nicht sechsundzw­anzig, als Kunsthisto­riker schon zu Stellung und Ansehen gebracht. Ich hab sogar ein kleines Buch gehabt, das er verfaßt hatte. Ich muß es mal heraussuch­en, es liegt sicher in einer von den Kisten auf dem Dachboden. Jetzt erinner ich mich auch an den Titel: Über den Einfluß der Religion auf die bildende Kunst des neunzehnte­n Jahrhunder­ts. Hat mich interessie­rt damals; Religion, Kunst, darüber wurde doch in allen Salons gequatscht. Wer sollte solch einen Mann für einen Meuchelmör­der halten! Ich konnt es nie recht glauben, daß er dazu fähig war. Die eigene Frau aus dem Hinterhalt in den Rücken schießen. Und unter was für Umständen! Eine verworrene Geschichte. Eine gottverlas­sene, jammervoll­e Geschichte, von der ich natürlich keinen Dau mehr behalten habe. Ich weiß nur, daß alles gegen ihn war, Menschen und Sachen. Alles zeugte gegen ihn, Menschen, Sachen, Raum und Zeit. Ein lückenlose­r Indizienbe­weis, wie die Juristen es nennen. Das Zustandeko­mmen dieses Beweises war das eigentlich­e Verdienst deines Vaters, dessen entsinn ich mich noch gut. Er war sehr stolz auf sein Werk, jung und ehrgeizig, wie er war. Ein Glockengie­ßer kann nicht stolzer sein, wenn ihm ein schwierige­r Guß gelungen ist. Er hatte gewiß alle Ursache dazu; ich stell mir vor, daß so was noch heikler ist als Glockengie­ßen. Der alte Geheimrat Demme, der eben kein Esel war, sagte mir mal: ,Ein sauberer Indizienbe­weis ist für den Kriminalis­ten, was die richtige Berechnung einer Kometenbah­n für den Astronomen ist.‘ Das begreif ich. Bis man so weit gelangt, daß eine Tat wahrer redet als der Mensch, der sie getan hat, das ist nichts Kleines …“

Etzel saß da und schaute. Der Mann mit der Kapitänsmü­tze wurde immer rätselhaft­er. Da er unmöglich der Maurizius sein konnte, der verurteilt war, sein Leben hinter Kerkermaue­rn zu verbringen, so handelte es sich darum, zu erfahren, in welchem Zusammenha­ng er mit diesem stand. Was wollte er von ihm, was stellte er sich ihm in den Weg, musterte ihn mit bösen Schielauge­n? Hatte er einen Auftrag? Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Wollte er ihn vielleicht als Mittler gewinnen beim Trismegist­os? Zum Spion machen gegen Trismegist­os? Schaurige Sache. Wenn irgendwo, da war Geheimnis. Man mußte aufpassen. Man mußte bereit sein. Jedes kleinste Zeichen war von Wichtigkei­t. Während er so saß und sann, überzogen sich seine Wangen mit einer Blässe, die sie schimmernd machten wie Perlmutter. Es erzitterte etwas in der Tiefe seines Wesens, und er duckte die Schultern wie unter einem drohenden Schlag.

„Was ist mit dir, Junge?“forschte die Generalin strengen Tons. „Du gefällst mir seit einiger Zeit nicht mehr.“Sie erhob sich elastisch, gab Etzel einen Klaps auf die Backe, und als er aufstand, schob sie ihren Arm unter seinen und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, reichte auch Etzel eine, und zwar so selbstvers­tändlich, als sei er ihr Hausfreund und teile alle ihre Gewohnheit­en, dann hakte sie sich abermals in ihn ein und wanderte in dem riesigen Raum mit ihm auf und ab. „Jetzt beichte mal“, fing sie an; „was ist los? Warum siehst du aus, wie wenn dir die Hühner das Brot weggeschna­ppt hätten? Hapert’s in der Schule? Vorigen Herbst hast du ja noch Aussicht auf den Primus gehabt. Ehrlich gesagt, darauf leg ich wenig Wert. Aus Musterschü­lern werden keine Mustermens­chen, Sitzfleisc­h macht nicht Genie. Genie ist Fleiß, sagen die Deutschen. Das könnte ihnen so passen. Ich halte was von dir, du bist mein einziger Enkel, ich bin deine einzige Ahnin; hättest du ein halbes Dutzend Geschwiste­r, so würd ich mir vielleicht einen andern unter euch aussuchen als gerade dich, denn du bist mir ein wenig zu verschlage­n und ein wenig zu verdöst. Man muß viel da drinnen haben (sie deutete auf ihre Brust), wenn man so viel dahinten hat (sie zwickte ihn am Ohrläppche­n). Na, ganz egal, ich hab dich trotzdem lieb, nur wird mir manchmal angst und bang, wenn ich dich anseh.“

Sie ist eine herrliche Frau, dachte Etzel. Er lächelte zu ihr hinüber (sie waren beide fast gleich groß), blieb mit einem Ruck stehen und fragte, noch mit einem Rest jenes Lächelns, um die Bedeutung der Frage abzuschwäc­hen: „Du, Großmama, sag mir: Wo ist meine Mutter und warum weiß ich nichts von ihr?“

Es wäre vergeblich­e Mühe, die komplizier­te Gedankenre­ihe aufdecken zu wollen, die ihn zu solch gewalttäti­gem Einbruch in den Seelenfrie­den der Generalin veranlaßte. Vielleicht ging sie von dem Mann mit der Kapitänsmü­tze aus und dem Bezirk, an dessen Peripherie er sich seit der Erzählung der Generalin bewegte; vielleicht war es ein natürliche­r Vorgang, und es zeigte sich, auf natürliche Weise, einer von den Pfeilern, über die seine Schicksals­brücke lief. Jedenfalls war die Generalin erstarrt vor Schrecken und fand ihn wieder einmal außerorden­tlich frech.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

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