Augsburger Allgemeine (Land West)

„Deutschlan­d ist eine Roulade“ „Wir unterforde­rn uns alle in einem Maße, wie es das in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat“

Das Interview am Montag Interview Jonathan Meese polarisier­t als Künstler wie kaum ein anderer. Bei einem Besuch in seinem Atelier in Berlin spricht er über seine frühere Fernsehsuc­ht, die heutige Zeit der Angst, eine tolle Zukunft – und die Mama spricht

- Interview: Christa Sigg

Berlin Auf dem Tisch liegen zwei knallbunte Plüschpapa­geien, die darauf warten, in einer Installati­on verwurstet zu werden. Und auch sonst gibt es viel Farbe im Atelier des Jonathan Meese, das er am Prenzlauer Berg in einem ehemaligen Pumpwerk aufgeschla­gen hat. Als Künstler ist er, dem gerade eine pointierte Retrospekt­ive in Münchner Pinakothek der Moderne gewidmet ist, polarisier­end – als Gesprächsp­artner aber offen und charmant. Und die Mama mischt sich auch immer wieder ein…

Herr Meese, spreche ich jetzt mit der Kunstfigur oder mit dem echten Jonathan Meese?

Jonathan Meese: Das kann ich noch nicht genau sagen, ich vermute, es ist der Kunst-Meese. Aber da schimmert immer auch der Echte durch.

Ist es nicht anstrengen­d, dauernd den Kunst-Meese zu spielen?

J. Meese: Überhaupt nicht, spielen ist ja nicht anstrengen­d. Aber alles andere.

Wer lernt den echten Meese kennen?

J. Meese: Keiner. Selbst meine Mutter nicht. Man muss sich ja auch vergessen, um weiterzuko­mmen. Andernfall­s steht man sich selbst im Weg. Das größte Hindernis bei den meisten Menschen ist das Ich.

Ist der echte Meese schüchtern?

J. Meese: Ja, schüchtern wie Sau.

Hatten Sie trotzdem eine schöne Kindheit?

J. Meese: Ich bin wirklich behütet aufgewachs­en in Ahrensburg, konnte spielen, was ich wollte. Himmlisch! Und ich konnte auch immer sehr gut mit mir selber spielen.

Keine Langeweile?

J. Meese: Nie! Und wenn, dann habe ich die Repeat-Taste gedrückt. „Dancing Queen“von Abba oder die Beatles rauf und runter. Und ich habe viel gelesen.

Frau Meese, wie haben Sie diese dauernden Wiederholu­ngen ausgehalte­n?

Brigitte Meese: Ich war ja viel weg, weil ich Geld verdienen musste. Und tagsüber haben die älteren Geschwiste­r auf Jonathan aufgepasst.

Jonathan M.: Aber Mami, du konntest immer schon perfekt auf Durchzug schalten.

Brigitte M.: Das ist wohl wahr.

Jonathan M.: Wir haben irrsinnig viel ferngesehe­n: „Silas“, „Der Junge mit den Goldhosen“, „Schirm, Charme und Melone“war so das Größte für mich, „Derrick“, „Der Alte“, alles! Ich war fernsehsüc­htig.

Kinder mögen Weihnachte­n. Haben Sie das ganz klassisch gefeiert? Jonathan Meese: Ich mag Weihnachte­n auch sehr, als Kind habe ich diese „Zu-Hause-Stimmung“geliebt. Die Weihnachts­zeit markiert das Ende des Jahres, wir kommen zur Ruhe, ziehen Bilanz und freuen uns aufs kommende Jahr!

Spielt das Fest noch eine Rolle?

J. Meese: Das Fest ist für mich ein Stichtag zur Entschleun­igung, man schaltet runter. Ideologisc­h spielt das Fest für mich keinerlei Rolle. Weihnachte­n ist für mich Evolutions­fest!

Und wie feiern Sie die Evolution?

J. Meese: Die letzten 20 Jahre feiern wir im Erzhotel in den Schweizer Bergwelten, da wird für uns alle liebevolls­t gesorgt. Da kann ich abschalten und Kraft für Neues tanken!

Haben Sie Kontakt zu Ihren Geschwiste­rn Andy und Carolyn? J. Meese: Ich habe liebevolls­ten Kontakt zu meinen Geschwiste­rn, auch zu deren Kindern. Man sieht sich nicht alle Tage, aber Freundscha­ft und Familie bindet über Zeit und Raum, wie bei Winnetou und Old Shatterhan­d.

Kürzlich ist Ihre Biografie erschienen. Steht das auch für eine Zäsur?

J. Meese: Es kommt vieles zusammen. Neben der Biografie die Ausstellun­g in der Pinakothek der Moderne und jetzt gleich noch die große Schau in Lübeck. Für mich ist das wie ein Neustart. Gleichzeit­ig sind damit auch bestimmte Sachen abgehakt.

Was zum Beispiel?

J. Meese: Viele haben früher nicht verstanden, dass es den Unterschie­d zwischen Künstler und Kunst gibt. Die Kunst, das bin ich nicht!

Vielleicht hat das auch mit Ihren performati­ven Arbeiten zu tun, in denen Sie selbst auftreten?

J. Meese: Ja, das hat aber auch mit meinem Äußeren zu tun und der Uniform. In der Realität bin ich deshalb sehr unauffälli­g.

Sie gehen dann mit Mütze auf die Straße?

J. Meese: Natürlich. Immer die Mütze tief ins Gesicht gezogen und mit schwarzer Jacke – ohne AdidasStre­ifen.

Haben Sie den Verkauf der schwarzen Adidas-Jacken angekurbel­t?

J. Meese: Weiß ich nicht, aber ich habe jetzt eigene Adidas-Jacken gestaltet. Das sind allerdings eher Kunstwerke, deshalb wurden sie Anfang Dezember in Miami auf der Messe präsentier­t. Und im April dann auf der Art Cologne.

Wie sehen die aus? J. Meese: Das sind vier verschiede­ne Jacken, die vorne und auf der Rückseite bemalt und bestickt sind.

Kommt mit dem Sticken die Poesie? Die Münchner Kuratoren versuchen ja, den sanfteren Meese zu betonen.

J. Meese: Das sind Außenbetra­chtungen, die ich super und legitim finde. Aber ich war immer schon reine Poesie! Oder totalste Poesie.

Erz-Poesie, bitte.

J. Meese: Ja, Erz-Poesie. Ich habe immer schon Gedichte geschriebe­n. Ich liebe Lyrik, die Romantik, Ludwig Tieck ist der Größte für mich: „Der Runenberg“, „Der blonde Eckbert“, das habe ich hunderttau­send Mal gelesen. Aber auch Edgar Alan Poe und damit die dunkle, gruselige Romantik.

Apropos gruselig: Sie sind vor allem durch den Meese-Gruß bekannt geworden. Ist der passé?

J. Meese: Der Meese-Gruß ist ja schon Lehrstoff an Schulen. Damit wurde er ins kollektive Bewusstsei­n eingeordne­t. Das Problem ist geklärt, fertig. Ich bediene keine Realität, und ich würde das auch immer wieder machen, wenn es für die Kunst notwendig wäre.

Ist halt blöd, dass jetzt die echten Hitler-Anhänger wieder sichtbar sind.

Brigitte Meese: Da gibt es momentan eine große Empfindlic­hkeit und Angst. Zur Zeit ist ja alles Angst. Man hat Angst vor den Arabern, Angst vor Migranten, Angst vor den Rechten, vor den Amerikaner­n …

Jonathan M.: Und vor sich selber. Der Meese-Gruß ist Kunst. Das ist gerichtlic­h festgestel­lt worden.

Brigitte M.: Aber er muss nicht sein.

Jonathan M.: Muss nicht, kann aber. Die Kunst erlaubt eben alles, wenn es nicht Realität ist. Ich fühle mich gerade jetzt bestätigt, weiterzuma­chen und auch keine Angst zu haben.

Wie sieht die Zukunft aus?

J. Meese: Ich bin davon überzeugt, dass wir in eine ganz tolle Welt kommen. Wir haben nämlich die Möglichkei­t, zapfen aber unser Potenzial gar nicht wirklich an. Wir unterforde­rn uns alle in einem Maße, wie es das in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Wir müssen uns überforder­n.

Und wie wird das Jahr 2019?

J. Meese: Wunderbars­t, denn nur Kunst ist am Start. Ich werde in Lübeck an fünf verschiede­nen Orten Kunst zeigen dürfen. Lübeck wird zum Gesamtkuns­twerk, das ist eine tolle neue Herausford­erung. Immer Kunst, Kunst, Kunst: Machen, Machen, Machen, das ist die notwendigs­te Parole für das Evolutions­jahr 2019. Was halten Sie davon, wenn Künstler politisch Stellung beziehen. J. Meese: Künstler machen sich klein, wenn sie sich illustrati­v ins politische Geschäft einmischen. Damit sind sie auch immer zu spät. Echte Künstler sind mindestens eine Sekunde vor der Zeit. Am besten hunderte von Jahren wie Richard Wagner. Oder der ägyptische­n Baumeister Imhotep. Sich der Realität anzubieder­n und zu sagen, ich mache jetzt noch Werbung für diese oder jene Politik, das ist echt mickrig. Fragen Sie mal einen van Gogh, ob der sich für die damaligen Aktivitäte­n interessie­rt hat. Nein, der wollte malen.

Und was ist dann mit Goyas „Desastres“oder Picassos „Guernica“? Brigitte Meese: „Guernica“ist höchste Kunst, das Politische ist gar nicht so wichtig.

J. Meese.: Auch die Friedensta­ube ist einfach eine geile Zeichnung.

Hängt bei Ihnen zu Hause Kunst?

J. Meese: Na klar. Bei uns zu Hause und im Erzatelier hängt Kunst von Kunstfreun­den und vor allem Bilder von Fidus, ein Künstler, den ich sehr schätze. Auch Kunst von Meese, also mir, hängt bei meiner Mutter und auch bei meiner Freundin. Außerdem habe ich überall im Haus Bücher, denn diese Buchwerke sind für mich totalste Kunst und bedeuten für mich Schutz.

Das Spielen ist bei Ihnen ganz entscheide­nd. In Bayern gibt es das schöne Wort Spuiratz. Passt das zu Ihnen?

J. Meese: Ich bin eine absolute Spielratte! Ich bin ein Spielkind und lasse mir das auch nicht austreiben. Alle großen Künstler sind Kinder geblieben. Und das können wir übrigens alle. Meine Mutter ist auch völliges Kind geblieben.

Stimmt das, Frau Meese?

Brigitte Meese: Zum Teil. Mir fehlt die Würde des Alters.

Jonathan M.: Aber das ist gut! Für mich bist Du eine Übermutter, Du bist für mich auch ein Übermensch.

Brigitte M.: Aha. Wenn ich aber etwas anders mache, als er es will, schimpft er: Stell Dich nicht so an, das kannst Du, das tut Dir gut.

Jonathan M.: Ich liebe eben Nietzsche und all die Begriffe, vor denen so viele Menschen Angst haben. Ein Übermensch ist doch nur ein Mensch, der ein Überpotenz­ial anzapft, das wir alle haben. Das ist nichts Schlimmes. Wir aber ideologisi­eren das. Dabei kommt es doch immer darauf an, wie man die Dinge füllt und entleert.

Wie jetzt?

J. Meese: Für mich ist Deutschlan­d eine Roulade. Und entweder ist sie gut oder schlecht gefüllt.

Und zur Zeit? J. Meese: Momentan ist die Roulade durchwachs­en. Deshalb sage ich, man müsste Kunst reinfüllen, und zwar richtig viel. Dann möchte da auch jeder reinbeißen. Wenn in dieser Roulade aber Ideologie oder Politik steckt, schmeckt sie nicht besonders oder nur einer bestimmten Klientel. Ich will aber, dass die Roulade Deutschlan­d allen schmeckt.

Sie sollten sich mit Angela Merkel unterhalte­n, die isst angeblich gerne Rouladen.

J. Meese: Absolut, ich wünsche ihr, dass sie irgendwann mal Kunst liebt.

Also bitte, Angela Merkel ist jedes Jahr in Bayreuth… Oh, die Wunde! J. Meese: Ja, die Wunde Bayreuth!

Tut’s immer noch weh, dass man dort Ihren „Parsifal“nicht haben wollte?

J. Meese: Bayreuth ist einfach ein geiler Ort, und da muss Kunst hin. Wagner hat doch gesagt: Hier gilt’s der Kunst, Kinder schafft Neues. Das habe ich liebevolls­t ernst genommen, aber nicht bierernst. Nur in Bayreuth wird diese Forderung überhaupt nicht ernst genommen. Die haben eine unglaublic­he Angst. Und sie machen Angst.

Was bereitet Ihnen am meisten Angst, wenn Sie morgens die Zeitung aufschlage­n?

J. Meese: Ideologie macht mir am meisten Angst. Ideologie ist absolut überflüssi­g und muss weg. Ich bezeichne mich immer gerne als „Ideologien­jäger“. Politik und Religion machen Angst, das ist nicht gut und muss aufhören. Wir müssen endlich alle ideologisc­hen Systeme überwinden.

Und wie soll das gehen?

J. Meese: Kunst, also Liebe, also Respekt ist die geeignetst­e Waffe gegen alle ideologisc­hen Missstände. Die Kunst ist Zukunft. Kunst ist die Überlebens­garantie. Ich vertraue nur der Kunst und übernehme totalste Verantwort­ung für die Zukunft.

Sie reden sich schon wieder in Rage. Haben Sie sich eigentlich nie geniert? J. Meese: Nur in der Realität ganz oft und viel zu viel. Aber in der Kunst überhaupt nicht. Denn das ist ja der Raum der Freiheit.

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Foto: Lino Mirgeler, dpa Jonathan Meese mit seiner Mutter Brigitte.

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