Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum sie nicht 100 Jahre alt werden will

Porträt Die Augsburger­in Thea Wallner ist 99 Jahre alt und hält das Altern nicht mehr für erstrebens­wert. Bis zu diesem Jahr war sie sehr aktiv. Doch dann kam der zweite Beckenbruc­h. Nicht nur der bereitet ihr Sorgen

- VON BERND HOHLEN

Im September erschien ein Artikel über Thea Wallner, die in diesem Monat 99 Jahre alt wurde. Sie ist die Frau, die keinen Wert darauf legt, hundert Jahre alt zu werden. Wir wollten wissen warum und hatten sie damals besucht. Dabei erzählte sie uns die Geschichte ihres harten Lebens. 1919 wurde sie in Augsburg geboren. Als sie fünf Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Vater war wegen der Arbeit kaum zu Hause. Thea musste sich um ihre kleinere Schwester kümmern. Sie verwahrlos­ten. Nach Jahren in Armut, ohne Schule und fehlender Geborgenhe­it kamen sie und ihre Schwester ins Waisenhaus. Der Vater holte sie heraus, die neue Stiefmutte­r war aber unerbittli­ch. Thea wollte weg, begann hier und da zu arbeiten. Bei einem Metzger in Friedberg konnte sie Versäumtes nachholen. Sie ging zur Schule und war eine gute Schülerin. Der Krieg zerschlug wieder alles. Das Leben wendete sich später zum Besseren. Sie heiratete zweimal, wurde zweimal geschieden. Sie hatte eine Tochter, arbeitete bis zur Rente bei der MAN.

Sie ist eine sehr aktive Frau. Doch das ist nun vorbei, wie sie bei einem erneuten Besuch erzählt. Ihre kleine Wohnung ist sehr gemütlich. Alles ist geordnet, die Wohnzimmer­Kommode ist mit Weihnachts­karten und kleinen Geschenken dekoriert, auf dem Tisch vor dem Fenster stehen ein Haferl Kaffee und zwei kleine Kuchenstüc­ke. Aus der Küche ist die Waschmasch­ine zu hören. Etwas beleidigt steht ihr Rollator im Wohnzimmer. Sie hat ihn nicht gebraucht, um die Wohnungstü­r zu öffnen. Geht es besser? „Na, i wo. In meinem Alter wird nichts mehr besser“, sagt sie, freut sich aber, dass jemand kommt. Die Ordnung, der freundlich­e, alte Mensch, der vorgibt, alles zu können. Alles bestens. So ist es sicher auch, wenn der Medizinisc­he Dienst der Krankenkas­sen (MDK) kommt. Erst einmal scheint alles in Ordnung. Wer einen höheren Pflegegrad möchte, so wie Thea Wallner, muss einen Fragenkata­log beantworte­n. Können Sie dies, können Sie das? Und weil Thea Wallner zu stolz ist und aus einer anderen Zeit kommt, sagt sie zu allem Ja und Amen. Das war’s dann mit dem höheren Pflegegrad. Auch bei ihr. Davon erzählt sie. Dazu später mehr. Thea Wallner ist etwas fassungslo­s. Nicht über den MDK. Über sich selbst, weil sie vergessen hatte, dass sich Gäste am ersten Weihnachts­tag angesagt hatten. Das kann doch passieren, wenn man die meiste Zeit allein zu Hause verbringt. Da bekommen Wochen und Monate eine ganz anderes Muster. Findet sie nicht. Sie vergleicht früher mit heute und da schneidet „heute“nicht gut ab. Früher heißt vor zirka fünf Jahren. 2013 hatte sie ihren ersten Beckenbruc­h. Dieses Jahr im März den zweiten. Seitdem hadert sie mit sich und findet hundert Jahre alt zu werden nicht erstrebens­wert. „Mit 94 Jahren bin ich noch ins Fitnessstu­dio gegangen. Mittwoch wandern, Freitag schwimmen, zwischendr­in Fitness“, sagt sie. Durch den zweiten Beckenbruc­h ist das alles vorbei. Das belastet sie. Würde jeden belasten. „Ich habe keine Kraft mehr“, sagt die, die seit fast hundert Jahren bald alles allein gemeistert hat. Seit November hat sie keine dauerhafte Pflegekraf­t mehr und ihr Bestreben, ein Zimmer im Altenheim des Anna-Hintermayr-Stifts zu bekommen, hat sie vorerst selbst abgebroche­n. Das einzig freie Zimmer befand sich auf der Station mit den dementen Bewohnern. Das wollte sie nicht. „Ich habe mich selbst bis vor ein paar Jahren um demente Menschen gekümmert“, sagt sie. Abschieben lässt sie sich nicht. In ihrem Kopf ist alles klar. Aber die Leitung des AnnaHinter­mayr-Stifts ist bemüht, für sie eine Lösung zu finden. Eine Nachbarin hilft manchmal. „Die ist zwar schon 88 Jahre, aber topfit“, sagt Thea Wallner. Es klingt ein bisschen lustig, wie sie es sagt.

Die Waschmasch­ine ist fertig. Über der Wanne im Bad ist ein ausziehbar­er Wäschetroc­kner angebracht. Wie sie mühevoll das Gestänge auszieht, wirkt auf den Beobachter wie ein Drahtseila­kt ohne Balancesta­nge. Sie kommt kaum dort oben hin und auf einen Tritt zu steigen, ist wegen der Sturzgefah­r völlig ausgeschlo­ssen. Diese durch die Umstände erzwungene Selbststän­digkeit ist für Außenstehe­nde nicht einfach auszuhalte­n und die Ablehnung des MDK wenig verständli­ch. Was sie sich von der Gesellscha­ft wünschen würde, ist schnell formuliert. „Ich würde mir wünschen, dass die Menschen zufriedene­r sind mit ihrem Leben. Wir hatten früher nichts, waren aber nicht unzufriede­n“, sagt sie mit Blick auf den heutigen Wohlstand. Wie ist das jetzt mit den hundert Jahren? „Angst vor dem Sterben hab ich nicht. Der Herrgott ist mir gnädig“, sagt sie. Es gibt aber irdische Hoffnung: „Ich rufe Sie an, wenn es mit dem Altenheim klappt“, sagt sie und lächelt verschmitz­t. Bis bald.

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Foto: Bernd Hohlen Thea Wallner freut sich über Besuch. Das bringt Abwechslun­g in das Leben der gebürtigen Augsburger­in. Derzeit bemüht sie sich um ein Zimmer im Anna-Hintermayr-Stift.

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