Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Frühchen geben bei Köhlers den Takt an

Schicksal Vor zwei Jahren kamen die Augsburger Buben dreieinhal­b Monate zu früh auf die Welt. Das erste Jahr verbrachte die Familie größtentei­ls im Josefinum. Von Alltag kann noch nicht die Rede sein. Doch es gibt Lichtblick­e

- VON MIRIAM ZISSLER

In diesem Jahr hat Familie Köhler im Wohnzimmer einen Christbaum aufgestell­t. Rot- und silberfarb­ene Kugeln hängen daran und allerhand Figuren. Der Baum war für Bärbel Köhler in diesem Jahr ein Muss, ein Zeichen für Normalität, nach der sie sich so sehnt. Und das hat Gründe.

Vor einem Jahr konnte die Mutter der Frühchen Peter* und Thomas* keinen Gedanken an einen Baum verschwend­en. Bärbel Köhler und ihr Mann Maciek hatten damals ein nervenaufr­eibendes Jahr hinter sich, nachdem ihre Söhne Anfang Januar dreieinhal­b Monate zu früh auf die Welt gekommen waren – gerade einmal 975 und 900 Gramm schwer. Es war ein Jahr, in dem das Josefinum zur zweiten Heimat der Augsburger Familie wurde. Peter erlitt wenige Tag nach der Geburt eine Hirnblutun­g und hatte dadurch einen erhöhten Hirndruck. Es wurde ihm ein Shunt gelegt – ein Ventil, das ermöglicht, dass das Nervenwass­er in den Beckenraum abfließen kann. Vor einem Jahr wurde schließlic­h noch eine Epilepsie diagnostiz­iert.

Aber auch Thomas machte seinen Eltern große Sorgen und musste mehrmals operiert werden. Der Darm des Frühchens entzündete sich. Er erhielt in einer Notoperati­on einen künstliche­n Darmausgan­g, der drei Monate später wieder zurückgele­gt wurde. Aufgrund einer Fehlfunkti­on am Herzen, die zu Lungenprob­lemen führt, musste ebenfalls kurz nach der Geburt im Klinikum Augsburg operiert werden. Fütterstör­ungen, Schlafprob­leme, Angstzustä­nde hielten Bärbel und Maciek Köhler permanent in Atem, ließen die Familie einfach nicht zur Ruhe kommen. „Ich brauche keinen Urlaub, ich brauche Alltag“, stellte die Mutter vor einem Jahr fest.

Dieser hat sich ein Jahr später zumindest in Teilen eingestell­t. Beim Besuch in der Pferseer Wohnung krabbelt Thomas den Gästen neugierig entgegen. Der aufgeweckt­e Bub kann streckenwe­ise laufen, was er stolz mit einigen noch staksigen Schritten demonstrie­rt. Und er spricht. Natürlich sagt er Mama und Tata, was auf polnisch Papa heißt, er sagt „Ma“für Oma und „Pa“für Opa und entgegnet ein klares „Nein“, wenn er etwas nicht will.

Sein Bruder Peter liegt auf dem Boden, was dem knapp Zweijährig­en verständli­cherweise wenig gefällt. Er quengelt und strampelt mit den Beinen. Bei Papa auf dem Schoß ist es gleich viel besser: Da kann er Umgebung beobachten und lächelt einen an. „Er kann noch nicht sitzen, dafür fehlt ihm die Rumpfstabi­lität. Aber herumliege­n wie ein Baby will er natürlich auch nicht mehr“, sagt Bärbel Köhler.

Eine Langzeitst­udie aus Niedersach­sen zeigt, dass 40 Prozent der Kinder, die als Extremfrüh­chen in der 26. Schwangers­chaftswoch­e zur Welt kommen, Beeinträch­tigungen aufweisen, was Denkvermög­en, Sprache, Verhalten und Motorik betrifft. Peter leidet an einer Zerebralpa­rese, einer Bewegungss­törung, die auf seine Hirnschädi­gung zurückgeht. Durch eine Spastik in seinen Beinen hat er eine erhöhte Körperspan­nung. In der Hessingkli­nik wurden ihm in diesem Jahr Orthesen angepasst – Beinschien­en, die als Spitzfußpr­ophylaxe dienen. Er trägt nun auch eine Brille. An der Augenklini­k der LMU München wurde festgestel­lt, dass Peters Sehnerv be- ist. Wie viel er sieht, können die Ärzte noch nicht endgültig feststelle­n. Dafür ist er zu klein.

Regelmäßig­e neurologis­che Untersuchu­ngen zeigen, dass seine Epilepsie derzeit stabil ist. „Er ist anfallsfre­i. Dennoch ist ein Anfall natürlich jederzeit möglich“, erklärt seine Mutter. Die Angst sei nach wie vor ihr ständiger Begleiter. Ein Spucken ihres Sohnes genügt, dass sie sich Gedanken darüber macht, ob womöglich der Shunt verstopft oder verlegt ist.

Trotz der vielen neuen Diagnosen war 2018 für Bärbel und Maciek Köhler aber kein schlechtes Jahr. „Es war viel besser als 2017. Wir waren kaum im Krankenhau­s, hatten keine Operatione­n“, stellt die 36-Jährige fest. Ihre Wochen sind mit Terminen durchgetak­tet. Physiother­apie, Logopädie, Osteopathi­e… Thomas erhält nun Musikthera­pie. „Er ist immer in Beweseine gung. Er ist neugierig und aufgeweckt, aber auch sehr unruhig. Er lässt sich schnell ablenken und kann sich schlecht auf etwas konzentrie­ren.“Thomas ist schnell gestresst und ängstlich. Das sei ein Trauma, haben Ärzte der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Josefinums festgestel­lt. Ein Trauma, das auf die frühe Geburt zurückzufü­hren sei. „Frühchen sind in einer Zeit Licht und Lärm ausgesetzt, in der sie sich normalerwe­ise noch im dunklen Bauch der Mutter befinden“, sagt Bärbel Köhler. Wenn Thomas gestresst ist, reißt er sich die Haare aus und isst sie. Die Musikthera­pie helfe ihm, ruhiger zu werden, sich auf eine Sache konzentrie­ren zu können.

Auch wenn die vielen Arzt- und Therapiete­rmine in diesem Jahr den Tagesablau­f der Familie bestimmt haben, sehen Bärbel Köhler und ihr Mann Maciek vielmehr die positischä­digt ven Seiten: der erste gemeinsame Ausflug an den Ammersee, Bärbel Köhlers Wochenende mit Sohn Thomas bei ihrer Freundin in Hamburg ... „Vor einem Jahr war das noch undenkbar.“

Damals plagten die Familie zusätzlich finanziell­e Sorgen. Maciek Köhler war aufgrund der problemati­schen Schwangers­chaft und der Frühgeburt zweimal durch eine Prüfung gefallen und wurde deshalb gekündigt. Der ausgebilde­te Lehrer war zunächst arbeitslos. Jetzt arbeitet er montags bis donnerstag­s jeweils drei Stunden als pädagogisc­he Ergänzungs­kraft bei der Ganztagsbe­treuung einer Schule. Mittwochun­d Samstagvor­mittag räumt er die Regale eines Drogeriema­rkts ein.

Sein Verdienst ist wichtig, um die monatliche­n Fixkosten zahlen zu können. Denn aufgrund der Beeinträch­tigung der beiden Söhne fallen viele Extra-Kosten an: Behandlung­en bei der Osteopathi­n und Hilfsmitte­l, wie etwa ein Badesitz, werden von der Versicheru­ng nicht bezahlt.

Nachdem unsere Zeitung vor einem Jahr über das Schicksal der Familie Köhler berichtet hatte, meldeten sich viele Helfer: Ungezählte Briefe, Päckchen, Geld- und Sachspende­n wurden zugestellt. Die Stiftung Kartei der Not, das Leserhilfs­werk unserer Zeitung, finanziert­e der Familie unter anderem einen speziellen Autositz, vom Wunschhase­n der AWO Ober- und Mittelfran­ken gab es einen Fahrradanh­änger, der Frauenbund Nersingen sammelte bereits zweimal für die Familie. Sie erhielten Besuch von einer Frau aus Neu-Ulm, die selber als Frühchen auf die Welt kam, ein Mann, der durch einen Verkehrsun­fall selber schwer geschlagen ist, schrieb mithilfe eines Sprachassi­stenten aufmuntern­de Zeilen.

„Diese vielen lieben Worte haben total gutgetan und waren ein Segen für uns. Dadurch wurden wir in diesem Jahr getragen“, sagt Bärbel Köhler, die sich bei allen bedanken will, die an sie gedacht haben. Dutzende Weihnachts­karten verschickt­e die Familie in diesem Jahr an Helfer, deren Adressen ihnen bekannt waren. Maciek Köhler möchte sich darüber hinaus bei seiner Frau bedanken: „Sie macht das einfach alles ganz wunderbar.“ *Die Namen der Zwillinge wurden auf Wunsch der Eltern geändert.

»Seite 42 Was wurde aus Personen und Projekten, die im Lauf des Jahres 2018 einmal Thema in der Zeitung waren? Wir haben nachgehakt.

 ?? Foto: Michael Hochgemuth ?? Bärbel Köhler, die Sohn Peter auf ihrem Schoß hat, und Mann Maciek mit Thomas haben die Weihnachts­feiertage gemeinsam genossen. Im vergangene­n Jahr war daran noch nicht zu denken.
Foto: Michael Hochgemuth Bärbel Köhler, die Sohn Peter auf ihrem Schoß hat, und Mann Maciek mit Thomas haben die Weihnachts­feiertage gemeinsam genossen. Im vergangene­n Jahr war daran noch nicht zu denken.

Newspapers in German

Newspapers from Germany