Augsburger Allgemeine (Land West)

Erdogan vergiftet das Klima

Meinungsfr­eiheit Wer den Staatspräs­identen kritisiert, bekommt es oft mit der Justiz zu tun. Daher schweigen jetzt viele in der Öffentlich­keit

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Die Festnahme des türkischst­ämmigen Bundesbürg­ers Adnan Sütcü wegen angeblich staatsfein­dlicher Facebook-Beiträge zeigt die zunehmende Unterdrück­ung der Meinungsfr­eiheit in der Türkei. Nach offizielle­n Angaben gehen die Behörden im Durchschni­tt jeden Tag gegen etwa 50 Verdächtig­e vor, die ihnen mit Kommentare­n in sozialen Medien auffallen: So kamen 2018 mehr als 18000 Verfahren zusammen. Viele Türken sagen deshalb in der Öffentlich­keit lieber nichts mehr.

Der Münchner Sütcü wurde laut Süddeutsch­er Zeitung, NDR und WDR am 27. Dezember in Ankara festgenomm­en, wo er an der Beisetzung seiner Mutter teilnehmen wollte. Inzwischen ist Sütcü demnach wieder auf freiem Fuß, darf die Türkei vorerst aber nicht verlassen. Die Bundesregi­erung lässt den Beschuldig­ten konsularis­ch betreuen.

Auf Facebook soll Sütcü der türkischen Justiz zufolge Propaganda für eine Terrororga­nisation verbreitet haben, was er bestreitet. Ob ihm Unterstütz­ung für die kurdische Terrororga­nisation PKK vorgeworfe­n wird, war zunächst nicht bekannt. Der 56-Jährige ist in München im kurdischen Dachverban­d Komkar aktiv. Als Mitglied desselben Verbandes war im Juli auch der Hamburger Dennis E. im südtürkisc­hen Iskenderun festgenomm­en worden; E. muss sich wegen PKKPropaga­nda verantwort­en.

Insgesamt sind rund ein halbes Dutzend Bundesbürg­er wegen politische­r Vorwürfe in der Türkei in Haft. Berlin spricht von Willkür der türkischen Behörden. Die Regierung in Ankara weist dies zurück. Terror-Propaganda werde auch in westlichen Ländern geahndet.

In der Türkei wird Kritik an Erdogan oder anderen Mitglieder­n der Führung häufig als Präsidente­nbeleidigu­ng oder Volksverhe­tzung verfolgt. Der Schutz des Staates und seiner Vertreter vor angebliche­n Angriffen wiegt für die Justiz weit schwerer als das auch in der Türkei verfassung­srechtlich garantiert­e Recht auf freie Rede. So muss sich derzeit ein prominente­r Banker vor der Justiz verantwort­en, weil er vor fünf Jahren ein Erdogan-kritisches Video auf Twitter verbreitet hatte.

Vor kurzem wurden zwei prominente Schauspiel­er vorübergeh­end festgenomm­en, nachdem sich der Staatspräs­ident über ihre Kommentare im opposition­snahen Fernsehsen­der Halk TV beschwert hatte. Auch gegen den bekannten Fernsehmod­erator Fatih Portakal wird ermittelt, weil er fragte, ob in der Türkei friedliche Protestdem­onstration­en noch möglich seien.

Auch im Parlament in Ankara hat die Justiz angebliche Staatsfein­de ausgemacht. Neun Abgeordnet­e sollen laut Staatsanwa­ltschaft ihre Immunität verlieren, weil sie auf Twitter eine Erdogan-Karikatur verbreitet hatten. Einer der Betroffene­n, Ali Mahir Basarir, erklärte, in der Türkei solle ein Reich der Angst errichtet werden.

Offenbar denken viele Türken wie Basarir. Ein hunderttau­sendfach angeklickt­es Video, das derzeit in sozialen Medien der Türkei die Runde macht, zeigt die vergeblich­en Versuche einer TV-Reporterin, Passanten nach ihrer Meinung zu den Kommunalwa­hlen im März zu befragen. In einer Szene geht ein Mann schweigend am Mikrofon der Journalist­in vorbei, streckt die Arme aus und legt die Handgelenk­e übereinand­er – ganz so, als würde er mit Handschell­en gefesselt.

 ?? Foto: dpa ?? Erdogan im Parlament: Will er ein „Reich der Angst“errichten?
Foto: dpa Erdogan im Parlament: Will er ein „Reich der Angst“errichten?

Newspapers in German

Newspapers from Germany