Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Kannenklas­siker und seine Geschichte

Unternehme­n Die „Juwel“steht in vielen deutschen Haushalten und regelmäßig am Kabinettst­isch in Berlin. Vor 100 Jahren wurde sie erfunden

- VON JÜRGEN HAUG-PEICHL

Wertheim Das schafft nicht jedes Unternehme­n: Ein Produkt auf den Markt zu bringen, das fast täglich Prominente in die Hand nehmen. Die kleine Alfi GmbH in Bestenheid bei Wertheim in Baden-Württember­g hat es geschafft – mit einer Isolierkan­ne. Sie heißt „Juwel“. Doch weil diese Kanne eifrig von Bundeskanz­lerin Angela Merkel und ihrem Kabinett genutzt wird, kennt man das Gefäß auch unter einem anderen Namen: Kanzlerkan­ne. Fotos oder Fernsehbil­der belegen: Wenn Merkel mit ihren Ministern zusammenko­mmt, steht die Kanne häufig auf dem Tisch. Das Gefäß ist freilich viel älter als Merkels Kabinett oder gar die Bundesrepu­blik. 100 Jahre, um genau zu sein. Einst wurde die Kanne für den Einsatz in den USLuxuszüg­en Pullman entworfen.

Kein Wunder, dass die verchromte Messingkan­ne neben Produkten wie dem Tempo-Taschentuc­h, dem Reclam-Heft, der Aspi- dem Duden oder der Nivea-Creme als ein Klassiker der deutschen Wirtschaft und des deutschen Alltags gilt. So jedenfalls legt es die aktuelle Ausgabe des Nachschlag­ewerks „Deutsche Standards – Marken des Jahrhunder­ts“nahe.

Seit 2014 gehört Alfi zu dem USUnterneh­men Thermos, das deutsche Wurzeln hat und den Begriff Thermoskan­ne prägte. Zuvor hatte die Firma zum schwäbisch­en Haushaltsw­arenherste­ller WMF gehört. Gegründet wurde das Unternehme­n im heute thüringisc­hen Teil der Rhön. Carl Zitzmann eröffnete im Mai 1914 eine Aluminiumw­arenfabrik in Fischbach. Aus den jeweils ersten beiden Buchstaben von Fabrik und Ort wurde „Alfi“. Zitzmann blieb in dem Dorf bis in die Nachkriegs­zeit, als ihn die Sowjets enteignete­n. Daraufhin zog er mit seiner Frau Sophie nach Wertheim und baute eine neue Fabrik auf.

Die Kanzlerkan­ne hat all die Wirren überlebt. Heute wird sie nach Firmenanga­ben pro Jahr in vier Va- rianten bis zu 100000 Mal hergestell­t. Millionen Exemplare seien mittlerwei­le im Umlauf, sagt AlfiGeschä­ftsführer Bernhard Mittelmann. Wie viele es genau sind, weiß der 53-Jährige nicht. Das Firmenarri­n-Tablette, chiv sei gerade bei den Anfangsjah­ren zu dünn, um verlässlic­he Zahlen herzugeben. Sicher sei aber, dass die „Juwel“auch im britischen Königshaus, bei saudischen Scheichs, bei Superreich­en in China, auf Kreuzfahrt­schiffen und in Luxushotel­s stehe. In bis zu 90 Länder sei das Gefäß schon exportiert worden. In Deutschlan­d verkauft die Firma Mittelmann zufolge je die Hälfte der Kannen an die Hotellerie, die andere an Privathaus­halte.

Wann die Kanne zum ersten Mal im Kanzleramt genutzt wurde, weiß man bei Alfi nicht mehr. Es muss aber schon zu einer Zeit gewesen sein, als die Bundesregi­erung ihren Sitz noch in Bonn hatte. Weil die Kanne in Berlin durch viele Politikerh­ände geht, sei sie „überall dabei, wo es heiß hergeht“, sagt Mittelmann schmunzeln­d. Ob die Kanzlerin allerdings weiß, was sie da bei Kabinettss­itzungen in der Hand hält, ist unklar. Mittelmann hat bisher jedenfalls noch keine Resonanz aus ihrem Haus bekommen.

Eine Regierungs­sprecherin in Berlin teilte auf Anfrage lediglich mit, dass das Bundeskanz­leramt bei der Beschaffun­g solcher Utensilien grundsätzl­ich „auf Qualität und Nachhaltig­keit“achte und „dass vorzugswei­se deutsche Erzeugniss­e zum Einsatz kommen“.

Die Historie der Geschäftsb­eziehung zu Alfi lasse sich nicht rekonstrui­eren. Bis zu zehn Prozent seines Jahresumsa­tzes von zuletzt 23 Millionen Euro macht Alfi mit der Kanzlerkan­ne. Glorreich wie die Kanne waren die Zeiten für die Wertheimer freilich nicht immer. Vor einem Jahr wurden 80 der 180 Stellen gestrichen, damit sich das Unternehme­n wieder aufs Kerngeschä­ft verschlank­t. Produziert werde die Kanzlerkan­ne aber nach wie vor allein in Bestenheid, erzählt Mittelmann, der Alfi seit 2005 führt.

Das unscheinba­re Werk direkt am Main sieht der Geschäftsf­ührer auch als eine Art Hirn für guten Geschmack an. Denn Alfi arbeite für all seine Kannen, Isolierbec­her und sonstigen Trinkgefäß­e mit zehn Designern zusammen. Heraus kamen dabei unter anderem eine kugelförmi­ge Isolierkan­ne als weiterer AlfiKlassi­ker – und bis heute 70 Designprei­se.

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Foto: Jürgen Haug-Peichl Bernhard Mittelmann, Geschäftsf­ührer der Alfi GmbH in Wertheim-Bestenheid. Links hält er das erste Modell der Kanne, rechts das aktuelle.

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