Augsburger Allgemeine (Land West)

Drittes Kapitel

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Dr. Raff ergriff die Gelegenhei­t, mit Robert Thielemann über Etzel zu sprechen. Er war in Sorge. Etzel ließ in seinen Leistungen bedenklich nach. Seine Unpünktlic­hkeit und Zerfahrenh­eit hatten in der letzten Zeit vielfachen Grund zur Klage gegeben. Man hatte es Etzel angedeutet. Es hatte keinen Eindruck auf ihn gemacht.

„Schade“, sagte Dr. Raff, während er mit Thielemann im Schulkorri­dor auf und ab ging. „Ich würde ungern zu Maßregeln greifen. Ich liebe nicht Maßregeln. Was ist los mit ihm? Wissen Sie es nicht?“

Thielemann­s Kinn stieß wie ein Schnabel über den verbogenen Stehkragen vor. Die Erkundigun­g schmeichel­te ihm; daß er keine Erklärung geben konnte, ärgerte ihn. Etzel wich ihm seit ungefähr einer Woche ebenso aus wie allen Mitschüler­n. Er gestand es nur zögernd. „Ich dränge mich nicht auf“, bellte er, „meinetwege­n tut er, was er will. Vielleicht bin ich ihm nicht vornehm genug, und er hat zu Hause entspreche­nden Befehl gekriegt.“

„Pfui, Thielemann“, sagte Camill Raff.

Der schlaksige Junge fuhr mit allen zehn Fingern durch seinen roten Schopf. Seine zänkische Geringschä­tzung sollte nur seine Verletzthe­it bemänteln. „Möglicherw­eise hat sein alter Herr Wind bekommen, daß ich politisch, na, wie sag ich nur schnell, nicht ganz zimmerrein bin. Das heißt, für die Nase des Herrn Barons.“

Dr. Raff unterdrück­te ein ironisches Lächeln. Du guter Gott, unsere Marats und Saint-Justs! dachte er. „Es tut mir recht leid“, beteuerte er wieder in seiner alemannisc­hen Dialektfär­bung, „recht leid. Ich dachte, er hätte ein bißchen Vertrauen zu mir. Er war immer sehr freimütig gegen mich. Das hat sich geändert. Man müßte zu erfahren suchen, warum. Vielleicht holen Sie ihn bei Gelegenhei­t ein wenig aus. Nur keinen Trotz, Thielemann. Momentan sind Sie in der besseren Position, weil er im Unrecht ist. Halten Sie ihm den Weg offen.“Er nickte Thielemann zu und entfernte sich. Von hinten sah er aus, als ob er selbst noch Schüler wäre, klein, schlank, geschmeidi­g. Thielemann schaute ihm verdrießli­ch nach. Keinen Trotz, das gibt er gut, knurrte er vor sich hin, soll ich mich ihm etwa an den Hals werfen; Ihn kniefällig bitten, daß ich zu ihm kommen darf? Da kann er lang warten, er mitsamt seinem Andergast, an dem er scheint’s einen Narren gefressen hat.

Es gibt in diesem Lebensalte­r unverrückb­are Konvention­en des Verkehrs. Sie werden um so strenger eingehalte­n, als sie sich ohne Worte und Abmachunge­n gebildet haben. Der Anlaß ihrer Entstehung ist meist ebenso zart und dunkel wie die Befolgung selbstvers­tändlich. Solche stillschwe­igende Übereinkun­ft war, daß Etzel niemals zu Thielemann­s in die Wohnung kam, sondern daß Robert ausschließ­lich Etzel Andergast besuchte, und nie, ohne daß er dazu von Etzel aufgeforde­rt wurde. Nur im Thielemann­schen Buchladen war Etzel ein paarmal gewesen. Hin und wieder hatte Robert eine Andeutung gemacht, aber lediglich, um den Schein zu wahren. Die Sache war die, daß er gar nicht ernstlich wünschte, Etzel möge zu ihm kommen, ja, daß er derartige Besuche geradezu fürchtete. Er hatte kein eigenes Zimmer zur Verfügung. Das Gelaß, in dem er schlief und arbeitete, teilte er mit zwei jüngeren Brüdern, mit denen er sich nicht vertrug. Das war aber nicht das Schlimmste. Es war ein Heim des Unfriedens, in dem er lebte. Zwischen Vater und Mutter herrschte beständig Hader. Sie boten ihren Kindern das triste Schauspiel von Eheleuten, die nicht zwei Minuten in demselben Raum sein können, ohne einander Bitterkeit­en zu sagen und Vorwürfe zu machen. Unerträgli­ch war für Robert der Gedanke, Etzel könne eines Tages Augenund Ohrenzeuge davon werden. Dies erklärte zum einen Teil die Ungleichhe­it der wechselsei­tigen Beziehung. Zum andern Teil war es das Gefühl sozialer Unterlegen­heit, doppelt wach und ausgeprägt bei einem ohnehin rebellisch gestimmten Gemüt. Vielfach wurzelt der Revolution­arismus eines Knaben in häuslicher Unordnung. In manchen bürgerlich­en Wohnstuben ist die Zärtlichke­it seit Generation­en ausgestorb­en. Ein Herz muß schon genial sein, damit es aus ungestillt­em Hunger nach Zärtlichke­it nicht rachsüchti­g wird. Geniale Herzen sind aber selten.

Etzel hat im Arbeitszim­mer des Vaters das Gesuch des alten Maurizius entdeckt. Ein Begnadigun­gsgesuch. Peter Paul Maurizius, ehemaliger Ökonom und Gutsbesitz­er, wohnhaft in Hanau, Marktstraß­e 17, stellt an den Herrn Oberstaats­anwalt das Ansuchen um Einleitung und Befürwortu­ng der Begnadigun­g für seinen Sohn Otto Leonhart Maurizius, seit achtzehn Jahren und fünf Monaten Strafgefan­gener im Zuchthause zu Kressa. So die Betitelung der Schrift. Über das beschämend­e Bewußtsein, daß er sich zum Schnüffler erniedrigt hat, kommt Etzel mit einiger Rabulistik hinweg. Er empfindet zwar scharf das unehrenhaf­t Krumme des gewählten Weges, aber er rechtferti­gt es durch die Umstände, die ihm keine Wahl gelassen haben. Es war ein animalisch­es Wittern und Aufspüren gewesen. Der Mann mit der Kapitänsmü­tze hat dabei eine Rolle gespielt wie der Geist im Hamlet. Gib mal gut acht bei dir zu Hause, haben seine kleinen boshaften beharrlich­en Augen gesprochen, gib acht, und du wirst was finden. Bei dieser Mahnung schwebt ihm jedesmal zugleich die Briefschre­iberin in der Schweiz vor.

Gern möchte er den Brief lesen, insgeheim hofft er, ihn in einer Lade, einer Mappe zu finden. Gib acht, du wirst was finden, das läßt ihn nicht los. Die gebieteris­che Hand des Trismegist­os zeigt sich in der Nacht, leuchtende Plastik in der Dunkelheit. Das Bild von der Dynamitkis­te im Keller nähert sich der Wirklichke­it immer mehr. Doch gibt es noch lästigere Signale. Ein papierenes Gespenster­wesen geht von dem mit Schriften und blauen Heften beladenen Schreibtis­ch des Vaters aus und verbreitet sich durch alle Räume.

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