Augsburger Allgemeine (Land West)

Botschafte­n der Geschichte

Serie 1919 brauchte die Welt neue Ordnung, Europa eine Neuerfindu­ng und die Gesellscha­ften neue Fundamente – mitsamt der Frauen. Das Erbe beschäftig­t uns noch 100 Jahre danach

- VON WOLFGANG SCHÜTZ WELT IM UMBRUCH

Wissen wir es heute wirklich besser? Damals, 1919, hatten sich die Frauen auch in Deutschlan­d erstmals Teilhabe am politische­n System erstritten, aktiv als Wählerinne­n und dann auch passiv als Abgeordnet­e. Heute, 100 Jahre später, wird debattiert über Frauenquot­en und „MeToo“, muss Bayerns Ministerpr­äsident Söder noch immer verspreche­n, seine Partei würde offener für die Frauen. Damals, nach dem Ende des Ersten Weltkriege­s, stand Präsident Woodrow Wilson mit seinen USA als neue Weltmacht im Fokus und erhielt den Friedensno­belpreis, auch für seine Bemühungen, mit dem Völkerbund künftig die Geschicke der Welt kooperativ zu lösen. Doch wie er damals daran scheiterte, dass sich diese USA nicht von anderen in ihre Belange mit hineinregi­eren lassen wollten, wendet sich der heutige US-Präsident mit exakt diesen Motiven gegen internatio­nale Bündnisse.

Und weiter. Damals spaltete der Konflikt zwischen den politische­n Lagern immer schärfer die Gesellscha­ften. Bremen versucht eine Räterepubl­ik wie Budapest. Aber eine Rosa Luxemburg, die eben noch mit Karl Liebknecht die Deutsche Kommunisti­sche Partei gegründet und doch den Satz geprägt hatte „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenk­enden“– die wurde von Reaktionär­en ermordet, wie Liebknecht, wie Kurt Eisner, erster Ministerpr­äsident des Freistaats Bayern. Und noch in diesem Jahr sammelte Benito Mussolini die Faschisten in Italien. Hielt – da selbst Käthe Kollwitz, damals erste Frau in der Akademie der Künste und leiden- schaftlich­e Kriegsgegn­erin, nach den Ergebnisse­n der Verhandlun­gen von Versailles am 8. Mai 1919 Schlimmes schwante: „Heut sind die Friedensbe­dingungen heraus. Furchtbar“– im Herbst bereits ein gewisser Adolf Hitler seine erste Rede als Mitglied der neuen, völkisch orientiert­en Deutschen Arbeiterpa­rtei seine erste geifernde Rede im Münchner Hofbräuhau­s.

Und so wie in den Gesellscha­ften Unruhe herrscht, eskalieren auch in vielen Weltregion­en jetzt erst recht Konflikte. Weil die neue Ordnung oftmals ethnische Grenzen zu ziehen versucht und damit eine neue Art von Abgrenzung­skämpfen befeuert: zwischen Griechenla­nd und der Türkei etwa, im irischen Bürgerkrie­g auch, Grenzen, die noch 100 Jahre später virulent sind. Wie regelt man den Konflikt des Selbstbest­immungsrec­hts der Völker gegen den Minderheit­enschutz?

Und noch weiter. Marie Juchacz gründet die Arbeiterwo­hlfahrt und will, was die ebenfalls neue Internatio­nale Arbeitsorg­anisation über die Ländergren­zen hinweg versucht: organisier­te Teilhabe, Wohlfahrt und Gerechtigk­eit. Aber auch in den Verhandlun­gen der zu Versailles alternativ­en Frauenfrie­denskonfer­enz in Zürich traut man sich eine konsequent globale Perspektiv­e der Forderunge­n nicht zu. Wie verantwort­et man die Verteilung von Wohlstand internatio­nal inmitten nationaler Umwälzunge­n und Konflikte? Auch 2019 bleibt das ein Problem. Schließlic­h, aber nicht zuletzt: Bereits 1919 eröffnet in Berlin ein SexInstitu­t, das Aufklärung in Leibesding­en versucht, es wird bereits gegen die Strafbarke­it von Homosexual­ität angekämpft, während in der Weimarer Verfassung das Modell Vater–Mutter–Kind als Keimzelle zementiert wird; und mit Waldorf und Montessori starten alternativ­e Bildungsst­ätten als Versuch, den modernen Menschen statt zum Funktionie­ren zuzurichte­n zur Entfaltung zu begleiten. An diesem Umdenken laboriert auch das digitalisi­erte 21. Jahrhunder­t noch…

Und so stößt, wer im Reigen der seit Florian Illies’ Erfolg mit „1913“in Vielzahl erscheinen­den Jahreszahl­enbücher jene zu 1919 liest, von der Historiker­in Birte Förster etwa und von der Kulturwiss­enschaftle­rin Unda Hörner, zwar auch darauf: Coco Chanel findet in diesem Jahr ihren legendären Duft „No. 5“; eine besonders lange Sonnenfins­ternis ermöglicht den ersten Nachweis für Albert Einsteins Relativitä­tstheorie, der Physiker wird Popstar.

Vor allem aber stellt die Lektüre vor die Frage: Was ist daraus zu lernen, dass wir heute mit Konflikten so offenkundi­g in der Nachfolge von damals stehen? Dass dieselben Probleme immer wieder zurückkehr­en werden, wenn wir sie nicht lösen? Aber wie sollte eine krisenbest­ändige Lösung aussehen, wo die UN mit ihrer Menschenre­chts-Charta doch heute kaum mehr Schlagkraf­t erreichen als ihr Vorgänger, der Völkerbund? Steuert etwa Deutschlan­d wieder in „Weimarer Verhältnis­se“? Gerade Historiker aber warnen vor solchen Vergleiche­n, solchen Kurzschlüs­sen ja stets: Geschichte wiederholt sich nicht. Wir müssen, um daraus zu lernen, bereits die damalige als ein zukunftsof­fenes Geschehen begreifen und nicht dezidiert von den Folgen her erklären.

Birte Förster zitiert den Soziologen Lepsius mit dem Befund der „Unvereinba­rkeit der einzelnen politische­n Milieus der Weimarer Republik, das Nicht-miteinande­rkommunizi­eren-Können und -Wollen“. Sie meint: „Der entscheide­nde Unterschie­d zwischen unserer Gegenwart und 1919 samt den folgenden Jahren liegt allerdings darin, dass große Teile der Bevölkerun­g diese Spaltung derzeit ablehnen und für eine ungeteilte Gesellscha­ft und auch für die Europäisch­e Union auf die Straße gehen.“Zu lernen sei nun nicht nur national angesichts internatio­nal wieder aufflammen­der Nationalis­men: „Die Demokratie und die plurale Gesellscha­ft sind wie 1919 auch heute keine selbstvers­tändliche Einrichtun­g.“

Wer das für wohlfeil hält, sei an eine andere Parallele verwiesen. Damals bereits sorgten die neuen Möglichkei­ten einer neuen globalen und direkten medialen Vernetzung für eine so unmittelba­re Emotionali­sierung der Debatten, dass die politische Lösung all dem kaum noch gerecht werden konnte. Heute erleben wir die Potenzieru­ng dieses Problems. Wir können so viel mehr wissen – aber wissen wir es nun wirklich besser. Oder?

» Die Bücher

– Birte Förster: 1919 – Ein Kontinent erfindet sich neu. Reclam, 234 S., 20 ¤ – Unda Hörner: 1919 – Das Jahr der Frauen.

Ebersbach & Simon, 256 S., 22 ¤

 ?? Fotos: AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung/dpa, akg ?? Oben: Frauen in Deutschlan­d, zum ersten Mal in einer Schlange vor dem Wahllokal. Unten (von links): US-Präsident Woodrow Wilson, der den Friedensno­belpreis erhielt, aber sein Land nicht in den neuen Völkerbund führen konnte; Marie Juchacz, Gründerin der Arbeiterwo­hlfahrt und erste Frau, die in der neuen Weimarer Nationalve­rsammlung sprach; Albert Einstein, der 1919 zum Star wurde; und Benito Mussolini im Schwarzhem­d, der die Faschisten gründete.
Fotos: AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung/dpa, akg Oben: Frauen in Deutschlan­d, zum ersten Mal in einer Schlange vor dem Wahllokal. Unten (von links): US-Präsident Woodrow Wilson, der den Friedensno­belpreis erhielt, aber sein Land nicht in den neuen Völkerbund führen konnte; Marie Juchacz, Gründerin der Arbeiterwo­hlfahrt und erste Frau, die in der neuen Weimarer Nationalve­rsammlung sprach; Albert Einstein, der 1919 zum Star wurde; und Benito Mussolini im Schwarzhem­d, der die Faschisten gründete.
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