Augsburger Allgemeine (Land West)
Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (13)
DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
ie Aktengespenster rumoren in der Andergastschen Wohnung schon lange, nur für Etzels Ohren vernehmbar, ein raschelndes, namenloses Schattenvolk, nur für seine Augen zu sehen, die in manchen Stunden Schatten besser wahrnehmen als Körper. Seine Empfindlichkeit in diesem Punkt hat Züge von Hysterie. Es ist Gefahr vorhanden, daß die stete Beschäftigung mit Verdecktem und Verstecktem seinen Geist mit Zwangsvorstellungen füllt. Aber da er einmal als Mensch mit dem Funken in der Seele geboren ist, Gott weiß, woher ihm der kam, in dem Bezirk aufwachsend, wo menschlicher Frevel und Irrtum in allen Graden und Stufungen täglich in verruchter Unzahl zur Verantwortung gezogen, wo dem Verbrechen die Notbrücke zur Sühne geschlagen wird, über die eine ungeheure Faust den Schuldigen mitleidlos schleift, so kann er auf keinen Fall unangerührt bleiben von den Gesichten. Vermutlich haben die Aktengespenster schon seine Wiege umlagert, und ihr Gewinsel hat ihn in den Schlaf gelullt. In diesem Haus waltet das Schicksal in Konzentration, und das sollte er nicht fühlen, Membran zwischen der finstern und lichten Sphäre der Welt, die er ist?
Da geht er also, befehligt von dem beharrlichen Blick der kleinen boshaften, astigmatischen Augen durch die Zimmer der stillen Wohnung, gepeinigt von einem Namen, einer legendenhaften, umrißlosen Tat, die sich hinter dem Namen bedrohlich verbirgt wie eine schleimige Molluske hinter den schwarzen Gläsern eines Aquariums, geht von Zimmer zu Zimmer, wieder und wieder. Es ist ein Spätnachmittag Ende März, der Vater hat telephoniert, daß er abends nicht kommt, Hilde Sydow hat sich verlobt, er hat seinen Gesellschaftsanzug ins Amt bringen lassen, für Etzel gilt es, die Rie zu beschäftigen und abzulenken, mit ungemeiner List hat er ihr seine Sporthose gebracht, die einen Triangelriß aufweist, und hat an ihre Meisterschaft im Stopfen appelliert; zugleich hat er ihr das Versprechen abgeschmeichelt, daß sie ihm zum Abendessen, da sie doch beide allein sein werden, gefüllten Pfannkuchen bereiten wird. Er weiß, den bereitet sie selber zu, da läßt sie die Köchin nicht heran, sie hat ein besonderes Rezept, sie freut sich, daß der Knabe, der in den letzten Tagen wenig Appetit gezeigt hat, mit einem Feinschmeckeranliegen zu ihr kommt. „Schön, schön“, sagt sie, „dir kann geholfen werden, mein Junge“, und ist also für ein paar Stunden unschädlich gemacht. Nachdenklich steht Etzel im Wohnzimmer, draußen beginnt es zu dämmern, rosiggrau wie eine Fahne glüht ein Stück Himmel durchs Fenster, die geschlossene Tür zum Arbeitszimmer des Vaters lockt, er öffnet sie, betritt den Raum mit den verräucherten, dunklen Tapeten und dem eklen Geruch kalter Zigarren, verharrt vor den aufgeschichteten Akten. Stapel um Stapel liegen sie da, mit grünen und blauen Deckeln, jeder Deckel hat ein ovales weißes Schild mit kalligraphischer Aufschrift. Noch nie hat er gewagt, solch ein Heft aufzuschlagen, jetzt wendet er den Deckel des obersten um, „Gnadengesuche“steht auf dem ovalen Schild, und das erste, worauf sein Blick fällt, ist der Name Maurizius.
Solche Zufälle sind Naturerscheinungen, elementar und gesetzmäßig.
Die Ausführungen des ehemaligen Ökonomen und Gutsbesitzers lassen die bittstellerische Demut fast gänzlich vermissen. Ein rechthaberisch verbissener Ton fällt auf. Hinweis auf frühere Hinweise, betreffend angebliche Fehler des prozessualen Verfahrens. Wie leicht kenntlich, sind es Schlußfolgerungen eines Laien. Das Gesuch scheint ohne die Hilfe eines Anwalts abgefaßt zu sein, vielleicht, weil die fachmännischen Ratschläge zu oft fruchtlos gewesen sind und der Schreiber endlich mit seiner eigenen Logik durchdringen will. Daher die unverblümte Sprache. Was schließlich zutage kommt, ist weit entfernt von Logik, es sind leidenschaftliche Behauptungen, ein hartnäckiges Immer-wieder-Zurückgreifen auf denselben Punkt, wie wenn jemand im Finstern gegen eine versperrte Tür poltert, ein verkrampftes Aufbegehren wie aus einer Wahnidee heraus.
An zwei Stellen wird der Name Waremme genannt. Es läßt sich ersehen, daß er im Prozeß als Kronzeuge fungiert hat. Der Schreiber wagt es nicht, ihn unverblümt des Meineids zu bezichtigen, aber man kann die Anschuldigung zwischen den Zeilen lesen. Noch mehr, es klingt, als sei dies längst bekannte, von niemandem mehr geleugnete Tatsache, während sie doch möglicherweise nur in der kranken Einbildung des Schreibers besteht. Entschlösse man sich gerichtlicherseits, so heißt es in dem Gesuch, die Aussagen dieses Gregor Waremme nachzuprüfen, so gäbe es noch heute, nach fast neunzehn Jahren, triftige Gründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens. Vielleicht falle dann auch auf eine gewisse Dame, Unseligste aller Unseligen, die zu nennen überflüssig sei, ein von dem bisherigen verschiedenes Licht. Die Worte „Unseligste aller Unseligen“waren zweimal unterstrichen und mit zwei eingeklammerten Ausrufezeichen versehen, woraus allein schon erhellt, wie wenig sich der Verfasser auf die Niederschrift eines amtlich einwandfreien Dokuments verstand.
Der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft hatte ja auch bereits mit Rotstift quer darunter geschrieben: „Zur Begnadigung ungeeignet, Andergast.“Der ehemalige Ökonom und Gutsbesitzer hat keine Ahnung, wie man sich vorteilhaft insinuiert; zehn Zeilen weiter erklärt er sich bereit, dem Gericht mitzuteilen, wo sich der Zeuge Waremme, der bisher als verschollen gegolten hat, nunmehr aufhält, läßt also durchblicken, daß er sozusagen auf eigene Faust polizeilich tätig gewesen ist, welche dilettantische Einmischung kaum geeignet sein kann, seine Glaubwürdigkeit in den Augen der kompetenten Behörde zu erhöhen.
Zum Schluß aber erhebt er sich zu theatralischer Rhetorik. Ist etwa dieser Peter Paul Maurizius eine Art religiöser Sektierer, der sich in dem naiven Glauben befindet, durch eine feierliche Evokation im biblischen Stil Eindruck auf ein preußisches Gericht zu machen? Abseits von der Lächerlichkeit der Anmaßung liegt jedoch eine unüberhörbare Wahrheit in der bombastischen Beschwörung, eine subjektive wenigstens, und da eben ist es Etzel zumut wie Hamlet, wenn aus dem Innern der Erde der Geist des Vaters zu ihm redet. Sprich, armer Geist, sagt er mit kummervoller Bestürzung.
In sein Hirn ätzen sich die Worte ein, er weiß, er wird sie niemals vergessen, er wird sie zitieren können, wenn man ihn zu Mitternacht aus dem Bett reißt und ihn danach fragt, mechanisch wird er sie herplappern wie eine auswendig gelernte Stelle aus dem Bellum Gallicum: „Bei Gott und seinen heiligen Heerscharen, es ist ein Unschuldiger, der seit mehr als achtzehn Jahren lebendigen Leibes im steinernen Grabe des Zuchthauses vermodert.