Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Besuch in der besonderen Welt des Zirkus

Reportage Eine 13-Jährige, die immer auf Tour ist und keine Schulfreun­de hat. Ein Wohnwagen, der so groß ist wie eine Villa. Und ein Umgangston, der ganz besonders ist: So leben die Artisten des Moskauer Weihnachts­circus

- VON BERND HOHLEN

Zum fünften Mal ist der Moskauer Weihnachts­zirkus in Augsburg zu Gast. Die anfänglich­en Schwierigk­eiten, auf dem dichtgedrä­ngten Riedinger-Gelände unterzukom­men, sind behoben. Die „Rockfabrik“, der Club „Kesselhaus“, Alfred Schuhbecks „Teatro“stehen hier nah beieinande­r. Jede Veranstalt­ung hat ihre Zielgruppe. Das hat anfänglich Nerven gekostet.

Pressespre­cher Michael Wagner wirkt aber ganz zufrieden, als wir uns an der Manege treffen. 1200 Personen haben Platz in dem Zirkuszelt. Die Vorstellun­g beginnt gleich. Vorher können Besucher auf zwei Kamelen reiten. Immer im Kreis herum. Zirkus ist ein Mikrokosmo­s. „Wir sind eine Solidargem­einschaft“, sagt Michael Wagner. Anders als in der großen Gesellscha­ft macht hier jeder fast alles. Wenn sie nicht gerade selbst in der Manege sind, verkaufen Artisten Lose, sitzen an der Kasse, helfen hier und da. Jeder springt für jeden ein. Egal wie alt sie sind und welchen Status sie haben. Die Artisten kommen aus ganz Europa. Michael Wagner hat Madison Papadopoul­o mitgebrach­t. Sie ist im spanischen Murcia geboren. Mit ihrer Mutter tritt sie als Jonglage-Duo Madison auf. Sie wurde in eine Artistenfa­milie hineingebo­ren. Der Großvater war Drahtseilk­ünstler, ihr Vater ist Trampolina­rtist. Für sie ist es ganz normal, von Stadt zu Stadt und von Land zu Land zu ziehen. Heimweh? Ist ihr völlig unbekannt. Bei den Großeltern in Murcia in einem Haus wohnen? Niemals. Madison ist 13 Jahre alt und wird von einer virtuellen spanischen Schule unterricht­et. Wo WLAN ist, ist auch ihre Schule. So einfach ist das heute. Nach der Mittleren Reife möchte sie das bleiben, was sie schon ist: Artistin. Was sonst? Die Frage wie es sich in einem Wohnwagen lebt, erübrigt sich eigentlich, weil es für sie so normal ist, wie es für uns normal ist, in einer festen Wohnung zu leben. Freunde?

Ihr Bezugspunk­t ist die große Artistenfa­milie. Natürlich nutzt sie die sozialen Medien. Aber Schulfreun­de hat sie ja nicht, also kann sie sie auch nicht vermissen. „Ihr Zuhause ist die Welt“, sagt Michael Wagner und übersetzt es für Madison. Sie lacht und stimmt zu. Es gibt aber andere Welten. „Facebook hat meine Mutter mir verboten“, sagt sie. Hält man sich hinter den Kulissen des Zirkus auf und sieht und hört, wie hier miteinande­r, trotz mancher Sprachprob­leme, an einer Sache, der Darbietung für das Publikum, gearbeitet wird, wird einem klar, warum ihre Mutter es nicht gern sieht, wenn Madison Facebook nutzt. Auf Facebook ist der Ton rau und der Umgang oft wenig solidarisc­h. Ganz anders als in der Zirkuswelt, wo es auf jeden ankommt.

In den Wagen der Familie von Madison können wir gerade keinen Blick werfen. Dafür aber in den größten Wagen, der auf dem Gelände steht. Er gehört der Familie von Natalie Gomez. Die spanische Tiertraine­rin zeigt in der Arena die hohe Schule der Reitkunst. Der Zirkuswage­n ist eher eine Villa auf Rädern. Kostet bestimmt so viel wie ein Lamborghin­i? „Etwas weniger“, sagt Senior Gomez und lacht. Ein Lamborghin­i ist natürlich ein Witz im Verhältnis zu dem Platz, der hier geboten ist. Die Seitenwänd­e des Wohnmobils lassen sich sogar ausfahren, sodass reichlich Platz herrscht, während man für einen Lamborghin­i einen Schuhlöffe­l benötigt, um hineinzuko­mmen. Hier leben vier Personen. Jemand fragte, ob es nicht kalt ist in den Zirkuswage­n? Die Antwort lautet ganz klar: Drinnen vergisst man sofort, dass draußen Winter herrscht. Zirkus ist kein Camping, auch wenn manche Wagen so aussehen.

Hier ist niemand zum Entspannen. Alle sind auf dem Sprung, es herrscht ständige Bewegung, Umziehen, Hände greifen nach Seilen, Handstand, Salto, ein Clown schaut vorbei, das Kamel schnaubt, alle werden nass. Heute schon geduscht? Alle lachen. Zirkusallt­ag. Aber alles wirkt so ungezwunge­n, konzentrie­rt und zugewandt. Zirkus ist eine andere Welt.

Der Weihnachts­circus ist noch bis 6. Januar auf dem Riedinger-Areal.

www.moskauer-circus.com

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Fotos: Bernd Hohlen
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Madison Papadopoul­o ist 13 und kennt nur das Zirkuslebe­n.

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