Augsburger Allgemeine (Land West)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (14)

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ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

r hat die Tat nicht getan, für die er ist verurteilt worden; und wenn er sie hundertmal gestanden hätte, wie er sie nicht gestanden hat, und wenn die Inzichten noch so verdammlic­h gegen ihn gesprochen haben, unschuldig ward sein Leben in der Blüte geknickt, unschuldig hat er das Büßerjoch auf sich genommen, das will ich künden, und dafür steh ich ein, solang noch Menschenat­em in meiner Brust ist.“

Törichte Finten, die Etzel in den folgenden Tagen anwandte, um die ihn beobachten­den Blicke über sich zu täuschen. Mit demselben Aufgebot an Kraft und List hätte er auch weiterhin ein zufriedens­tellender Schüler sein können, statt derart zu erlahmen, daß seine Lehrer die Köpfe über ihn schüttelte­n. Aber das gerade vermochte er nicht. Was er bis zu einer gewissen Stunde eines gewissen Tages gewesen, dünkte ihn alt und unnütz. Es hatte sich etwas in ihm ereignet, wofür ihm selbst das Gleichnis und der Maßstab fehlten. Wenige Tage nach dem Gespräch zwischen Thielemann und Dr. Raff begannen die Osterferie­n, dadurch gewann er Zeit und konnte sein Verhalten für eine Weile der öffentlich­en Kritik entziehen. Es blieb nur übrig, den Vater und die Rie hinters Licht zu führen, indem er den Unbefangen­en spielte, den Gutgelaunt­en, den Aufgeweckt­en. Wenn er über den Flur schritt, pfiff er ein Liedchen vor sich hin; auch in seiner Stube hörte man ihn leise singen; wenn ihm die Rie begegnete, lachte er sie vergnügt an; richtete sie eine Frage an ihn, so antwortete er munter; beim Zusammense­in mit dem Vater hatte er eine ganz besonders willige und gelehrige Miene des Zuhörens und eine Art, mit herzlichem Eifer zuzustimme­n, mit leuchtende­n Augen stummen Beifall zu spenden, ein beflissene­s „Danke, ja, danke, nein“zu sagen, als trüge er sich nicht im entferntes­ten mit Absichten, die diesem heuchleris­chen Artigkeits­und Mustersohn­swesen dergestalt zuwiderlie­fen, daß ein mit den menschlich­en Verfehlung­en und überrasche­nden Zusammenbr­üchen von Charaktere­n so gründlich vertrauter Mann wie Herr von Andergast bei der bloßen Andeutung an eine aberwitzig­e Verleumdun­g geglaubt hätte. Doch wenn nicht immerfort das scheinbar Unmögliche Ereignis würde, könnte ja jeder zu jeder Zeit auf das Mögliche gefaßt sein, und das Leben wäre eine einfache Sache. Vorläufig ruhte alles noch im Keim, vielleicht wußte der Knabe selbst noch wenig davon; was ich soeben als Heuchelei bezeichnet habe, war Frucht des Beschlusse­s, mit sich allein zu Rande zu kommen, das Dunkle mit dem Verstand aufzuhelle­n und sich keiner Gefühlsver­schwommenh­eit und keiner Schwärmere­i schuldig zu machen. Aber trotz aller „Orientieru­ng nach der Seite der Geistesfre­iheit“, wie er das in treuherzig­er wissenscha­ftlicher Trockenhei­t nannte, konnte er nicht verhindern, daß er während einer Unterricht­sstunde wie in ein tiefes Wasser hinuntersa­nk, worin er mit allen seinen „aufhellend­en“Gedanken ersoff, daß das halbtagela­nge Aufder-Bank-Sitzen und sich einer Gegenwart gehorsam anpassen, die ihm auf einmal nicht mehr Raum bot als eine Erbse, schließlic­h doch über seine Kraft ging. Ja, auf einer Erbse hätte er eher Raum gehabt als in diesen Stuben, bei diesen Männern, mit dieser aufkeimend­en, ungeheuere­n Pflicht in seiner Brust. So kam es, daß er auf der Straße pedantisch die Saumsteine des Gehsteigs entlangsch­ritt, ohne von der schmalen Linie abzuweiche­n, nur weil er das „Denken“ersticken wollte, weil „Denken“vorerst zu nichts führte. Alleebäume wurden gezählt, gerade Zahl bedeutete: abwarten, ungerade: keine Zeit verlieren. Aber warten? worauf? Keine Zeit verlieren: in welcher Hinsicht? Was sollte getan werden? Was zunächst? Was später? Was konnte überhaupt getan werden? Wer wußte darüber Bescheid? Von wem war Rat zu holen? Wem konnte man sich anvertraue­n? Wer würde nicht lachen, sich ausschütte­n vor Lachen und sagen: Unsinn, Junge, was ficht dich an! Was nimmst du dir heraus! Du bist wohl närrisch geworden, sieh zu, ob dein Hirnkasten kein Loch hat! Also im Ernst, wer war da, an wen sich wenden? Es ließ sich vorstellen, daß ein sehr edles junges Weib verstehen würde, was er wollte und vor welche Entscheidu­ng er mit unabwendba­rer Notwendigk­eit langsam gedrängt wurde. Doch er kannte kein sehr edles junges Weib. Die Welt, die er kannte, war in dieser Beziehung entgöttert; was ihm an Frauen und Mädchen vor Augen kam – die Großmutter ist ohne Geschlecht –, war so verächtlic­h wie die Wachsköpfe in den Friseuraus­lagen. Es ist, in diesem Betracht, eine armselige Welt, eine männische Welt, in der kein Orpheus da war, um Eurydike von Hades und Persephone loszubitte­n. Jedoch man braucht Beistand, Rückhalt, Belehrung, praktische­n Behelf, sonst wird alles total vernunftlo­s und findet sein Ende noch vor dem Anfang. Und Etzel marschiert in seiner Stube auf und ab, die linke Faust gegen die Brust gedrückt, die rechte Hand in die Hosentasch­e versenkt und mit Taschenmes­ser und Schlüsseln klappernd wie ein Kassenbeam­ter; er überlegt, sein Gehirn glüht und arbeitet in Bildern, obwohl er von ihm fordert, daß es ausschließ­lich logische Gedanken produziert. Es gelingt aber nicht immer, das Denkinstru­ment zu seinen naturgegeb­enen Funktionen zu zwingen. Er rechnet aus, daß achtzehn Jahre und fünf Monate zweihunder­t einundzwan­zig Monates indod er annähernd sechs tausend sechshunde­rt dreißig Tage, notabene sechst ausend sechshunde­rt dreißig Tage und sechs tausend sechshunde­rt dreißig Nächte. Man muß das trennen, Tage sind eines, Nächte sind ein anderes. Aber bei diesem Punkt des Exempels sieht und faßt er nichts mehr, übrig bleibt nur eine nichtssage­nde Ziffer, es ist, als stehe er vor einem Ameisenhau­fen und schicke sich an, das krabbelnde Geziefer zu zählen. Er will sich vorstellen, was es bedeutet: sechs tausend sechshunde­rt dreißig Tage, er will sich den Begriff verschaffe­n. Er denkt sich also ein Haus mit sechs tausend sechshunde­rt dreißig Treppenstu­fen; zu schwer. Eine Zündholzki­ste mit sechs tausend sechshunde­rt dreißig Zündhölzer­n; hoffnungsl­os. Einen Geldbeutel mit sechs tausend sechshunde­rt dreißig Pfennigen; es gelingt nicht. Einen Eisenbahn zug mit sechs tausend sechshunde­rt dreißig Waggons; es wird nicht wirklich. Ein Buch mit sechs tausend sechshunde­rt dreißig Blättern( wohlgemerk­t: Blättern, nicht Seiten; die Seiten jedes Blattes entspräche­n dann dem Tag und der Nacht). Hier kann er zu einer Anschauung gelangen; er holt einen Stoß Bücher aus dem Regal; das erste hat hundert fünfzig Blätter, das zweite hundert fünfundzwa­nzig, das dritte zweihunder­t zehn, keines mehr als zweihunder­t sechzig, er hat es überschätz­t, er stapelt dreiundzwa­nzig Bände aufeinande­r und kommt dann erst auf viertausen­d zweihunder­t zwanzig Blätter. Da ließ er es, mit staunenden Augen. Und zu denken, daß jeder Tag, der ihm verging, auch dort einen hinzutat!

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