Augsburger Allgemeine (Land West)
Reaktionen und Ermittlungen nach massenhaftem Datenklau bei Politikern und Prominenten „Bye bye, Twitter und Facebook“Razzia in Heilbronn
Cyber-Attacke Dem Grünen-Chef Robert Habeck reicht es mit den sozialen Medien. Er geht einen radikalen Schritt. Dafür gibt es Lob und Kritik Steckt ein 19-Jähriger hinter „0rbit“?
Berlin Eigentlich nutzt Robert Habeck die sozialen Netzwerke geschickt zur Selbstdarstellung. Schließlich verdankt der GrünenChef seine große Popularität unter anderem seinen Aktivitäten im Netz. Doch jetzt zieht ausgerechnet er einen Schlussstrich und steigt aus bei Twitter und Facebook. Das ist nicht nur die Folge des massiven Online-Angriffs auf rund tausend Politiker und Prominente – von dem Habeck besonders hart getroffen wurde. Es sind auch eigene, missglückte Äußerungen, die den Schriftsteller die Notbremse ziehen lassen. Unter der Überschrift „Bye bye, Twitter und Facebook“kündigte Habeck seinem Blog an, seine Konten auf Facebook und Twitter dichtzumachen.
Zur Vorgeschichte der TwitterEntscheidung: „Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land“, sagte Habeck in einem Video, mit dem die Thüringer Grünen um Unterstützung für die Landtagswahlen im Herbst werben. Eine Aussage, die für mächtig Hohn und Kritik sorgte – zumal die Grünen in Thüringen mitregieren. Sie sind Partner in einer Koalition mit Linkspartei und SPD. Und es war auch nicht die erste fragwürdige Aussage Habecks. Bereits vor der bayerischen Landtagswahl im vergangenen Herbst hatte er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter gefordert, die CSU-Alleinherrschaft zu beenden, damit man sagen könne: „Endlich gibt es wieder Demokratie in Bayern.“
Habeck zeigte sich zerknirscht. Er wolle keineswegs unterstellen, Thüringen sei nicht weltoffen und demokratisch. Zweimal denselben Fehler zu machen, sei „einfach nur dämlich“, so Habeck. Als Konsequenz werde er aussteigen aus Twitter und Facebook – obwohl er in beiden Netzwerken zusammen fast 100000 Anhänger hat. Twitter sei ein „sehr hartes Medium, wo spaltend und polarisierend geredet wird“, das färbe auch auf ihn ab.
Habeck zählt zudem zu den Politikern, die im aktuellen Datenskandal am heftigsten betroffen sind. Noch immer ist ungeklärt, wer vertrauliche und teils hochsensible Informationen und Dokumente von rund 1000 Politikern und Prominenten im Internet veröffentlicht hat. Das Gros der Fälle ähnelt dem von SPD-Chefin Andrea Nahles, deren Handynummer und private Anschrift im Netz zu finden war. Dies habe sie persönlich berührt und verletzt, so Nahles. Auch wegen ihrer kleinen Tochter habe sie eine „gewisse Privatsphäre wahren“wollen. Rund 50 bis 60 Betroffene hat es aber noch deutlich heftiger erwischt. Bei Habeck etwa waren unter anderem sensible Dokumente seiner Kinder und die Verläufe von privaten Online-Unterhaltungen veröffentlicht worden.
Wichtige Politiker ohne eigene Aktivität in den sozialen Netzwerken werden mehr und mehr zur Ausnahme. „Kann sein, dass das ein politischer Fehler ist, weil ich mich der Reichweite und direkten Kommunikation mit doch ziemlich vielen Menschen beraube. Aber ich weiß, dass es ein größerer Fehler wäre, diesen Schritt nicht zu gehen“schrieb auch Habeck in seinem Blog. Er ertappe sich selbst dabei, wie er nach Auftritten in Talkshows oder Parteitagen „gierig“prüfe, wie er im Netz angekommen sei.
Wolfgang Schweiger, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, nennt Habecks Entscheidung bemerkenswert: „Zum ersten Mal gibt ein Politiker zu, dass das Tempo, die Direktheit und Spontaneität in den sozialen Medien für ihn persönlich gefährlich sind.“Habeck gebe auch zu, „wie viele andere von einer gewissen Eitelkeit getrieben zu sein – wie viele Likes und Kommentare bekomme ich für einen Beitrag – und deshalb gelegentlich übers Ziel hinausgeschossen zu sein“. Schweiger: „Hätten wir nur mehr solche Politiker mit einem solchen Grad an Foto: Carsten Rehder, dpa
Selbsterkenntnis und Verantwortungsgefühl.“Andererseits, so der Wissenschaftler, „werfen gerade Parteifreunde Habeck nicht zu Unrecht vor, das Netz damit kampflos den Hatern und Manipulatoren zu überlassen. Auch das ist richtig.“Gerade deshalb sieht unter anderem Werner Weidenfeld, Politikwissenschaftler aus München, den Schritt kritisch: „Twitter und Facebook gehören zur modernen politischen Kommunikation wie Sauerstoff zur Vitalität. Man kann nicht einfach sagen ‚Ich steige da aus‘. Der wird sich auch noch mal überlegen, ob das sinnvoll war“, sagte er der Bild.
Weitere Informationen zum Stand der Ermittlungen gab es unterdessen zunächst nicht. Innenminister Horst Seehofer (CSU) will sich Mitte der Woche äußern. Als Konsequenz aus der Affäre will das Innenministerium das Cyber-Abwehrzentrum besser aufstellen. Heilbronn An diesem trüben Montagvormittag brennt hinter den Fenstern an der Horkheimer Hauptstraße kein Licht. Die Tür des schmalen Hauses in dem Heilbronner Stadtteil öffnet sich zögerlich. Ihr Stiefsohn sei bei der Arbeit, sagt die Frau, die die Tür gerade mal einen Spalt weit öffnet. „Er ist fest angestellt. Und es ist keine gute Idee, dort jetzt für Rummel zu sorgen“, sagt sie. „Er“, das ist ein 19-Jähriger, der von den Behörden mit dem Datenklau in Verbindung gebracht wird. Ein Hacker namens „0rbit“wird hinter den Taten vermutet.
Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) haben am Sonntag die Wohnung von Jan S. in Baden-Württemberg durchsucht, technisches Gerät mitgenommen und den Müll durchsucht. Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt sagte: „Die verdeckte Phase der Ermittlungen dauert an.“Über Twitter kommentiert Jan S. selbst die Durchsuchung. So vermutet er, schon seit Wochen von der Polizei beobachtet zu werden – und wundert sich über das Vorgehen der Behörden. „Ich werde höchstwahrscheinlich bereits seit Wochen von der Polizei beobachtet, hatte seit ca. vier Wochen keine Hardware mehr, gestern erneute Beschlagnahme von allen neuen und übrig gebliebenen Geräten, wie kann man da eigentlich nur ansatzweise dran denken dass ich 0rbit sei?“, fragt Jan S. in einem Tweet, der später gelöscht wurde. Allerdings sagt er auch, dass „0rbit“sich nach der Veröffentlichung der Daten bei ihm gemeldet habe.
Ein bislang Unbekannter hatte über das inzwischen gesperrt Twitter-Konto @_0rbit zahlreiche persönliche Daten von Politikern und Prominenten veröffentlicht. Nach Ansicht des Chaos Computer Clubs (CCC) hat der Täter sehr viele Informationen von sich preisgegeben. „Das Vorgehen war einfach sehr unvorsichtig, es wurde mit den Betroffenen gechattet, es wurden Details des Vorgehens preisgegeben. Es wurden sehr viele Metadaten, Zugriffszeiten und Motivationen, Rechtschreibfehler, eigene Gedanken in diesen Daten hinterlassen“, sagte CCC-Sprecher Linus Neumann. „Das sind alles kleine Puzzlestücke darauf, wie der Angreifer drauf ist, was seine Motivation ist und wann er was getan hat.“Bei solch einer Fülle an Daten wäre er überrascht, wenn sich nicht am Ende ein Bild ergeben würde, „das fähige Strafverfolgungsbehörden relativ schnell dazu bringt, diese Person zu fassen.“
„Hätten wir nur mehr solche Politiker mit einem solchen Grad an Selbsterkenntnis und Verantwortungsgefühl.“
Computer-Programmen, oder TrollFabriken, also Schreibern mit dem Auftrag oder Ansporn, Zwist zu sähen, verfasst werden, muss man sich fragen, wie die sozialen Medien die politische Debatte tatsächlich bereichern.
Eher schon haben sie das Potenzial, Diskussionen zu vergiften oder vollkommen auszuklammern. Der brasilianische Rechtspopulist Jair Bolsonaro hat es vor allem durch einen geschickten Wahlkampf über soziale Medien geschafft, mit seinen radikalen Positionen und zurechtgebogenen Fakten eine Mehrheit zu gewinnen.
Wenn ein deutscher Spitzenpolitiker öffentlich aussteigt, sollte das ein Alarmsignal für den gesamten politischen Betrieb sein: Die sozialen Medien mögen wie ein harmloses Spielzeug wirken, auf denen jeder, der Hip sein will, mitklimpern muss. In der Konsequenz stärken sie bislang eher antidemokratische Kräfte.