Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Verrohung der Briten

Das Vereinigte Königreich stellt die Schicksals­frage und im Land spielen sich verrückte Szenen ab. Wie geschaffen, um sie mit britischem Humor zu nehmen. Doch auf der Insel lacht niemand mehr. Warum der politische Streit kaum noch zu ertragen ist

- VON KATRIN PRIBYL

London An einem dieser Abende in diesen ohnehin verrückten Zeiten, es war kurz vor Weihnachte­n und nach dem Misstrauen­svotum gegen Premiermin­isterin Theresa May, lud Außenminis­ter Jeremy Hunt Diplomaten zum Empfang ins prächtige Lancaster House. Umhüllt vom vergoldete­n Glanz und Geist des British Empire pries Hunt das Großbritan­nien der Zukunft und auch ein bisschen sich selbst. Er schielt offensicht­lich auf den Posten in der Downing Street. Dieser Club der möglichen Kandidaten wird täglich größer, wenn auch nicht besser; ermutigt von der Regierungs­chefin selbst, die zwar offiziell an der Macht ist, aber keine mehr hat.

Hunt jedenfalls zeigte sich zuversicht­lich, dass alles gut werde. Immerhin, so sagte er zuletzt im Parlament, könne man Parallelen zwischen seinem „Lieblingsk­inderfilm“Lassie und dem Brexit ziehen: Der Hund habe sich „ohne jegliches Referendum“befreit und sei nach Hause gekommen. „Das ist für uns alle eine Lektion.“Nicht jeder konnte ihm in seiner Argumentat­ion folgen. Auf der Liste der potenziell­en Nachfolger Mays klettert er trotzdem stetig nach oben. Vielleicht liegt es daran, dass Hunt gerne seine Meinung ändert, je nachdem, wie der Wind gerade weht.

Theresa May kämpft bis zuletzt für ihr Abkommen, das sie mit Brüssel ausgehande­lt hat. Doch an diesem Dienstag droht ihr die größte aller Niederlage­n, wenn das Parlament über den Deal abstimmt. Es gilt als sicher, dass sie zumindest im ersten Anlauf krachend scheitern wird. Verzweifel­t beschwört sie am Montag ihre Kollegen. Nicht nur, dass mit einer Ablehnung ein Austritt ohne Vertrag ein Risiko bleibe. Noch wahrschein­licher sei es, dass es zu „einer Lähmung des Parlaments“komme – mit der Gefahr, ohne Brexit dazustehen, sagt sie.

An jenem Abend im Dezember, als Hunt im Lancaster House empfing, trafen sich nicht weit entfernt im Obergescho­ss eines Pubs in Westminste­r einige konservati­ve Rebellen, die aus ihrem Groll gegen ihre Chefin mittlerwei­le fast so etwas wie eine Marke kreiert haben. Die europaskep­tischen Hardliner waren damals zwar mit dem Versuch gescheiter­t, die Premiermin­isterin zu stürzen, doch es ist ihnen zuzuschrei­ben, dass die öffentlich­e Debatte im Königreich zunehmend ins Extreme gerückt ist.

Die Stimmung an diesem Abend, heißt es, sei ausgezeich­net gewesen. Da aßen die – vornehmlic­h – Herren also Häppchen, soffen, wie das nur Briten können, und zelebriert­en im traditione­llen Dreireiher ihren Widerstand. In vorderster Linie EUSkeptike­r Jacob Rees-Mogg, der Mann aus der Vergangenh­eit, der so affektiert daherredet, dass Zuhörer gar nicht merken, welche Unwahrheit­en da gerade so parfümiert verbreitet werden. „Kein Deal ist immer noch besser als ein schlechter“, sagte der Multimilli­onär, der angeblich einige seiner Geschäftsa­nteile nach Irland verlagert hat. So viel zum Vertrauen in den Brexit.

Am liebsten wäre Rees-Mogg also ein Brexit ohne Austrittsa­bkommen. Nur raus aus der Gemeinscha­ft. Endlich befreit von den Ket- der verhassten EU. Danach die Sintflut. Die kommt unweigerli­ch.

Denn die Regierung hat in den vergangene­n Monaten gezeigt, dass sie auf eine solche Eventualit­ät alles andere als vorbereite­t ist und ein bemerkensw­ertes Maß an Inkompeten­z offenbart. Verkehrsmi­nister Chris Grayling etwa beauftragt­e kürzlich ein Unternehme­n damit, mit zusätzlich­en Schiffsver­bindungen die Lieferung von Waren auf die Insel zu sichern. Dover ist ohnehin überlastet, weshalb Fähren zwischen dem Hafen Ramsgate in Kent und dem belgischen Ostende Abhilfe schaffen sollten. Das entscheide­nde Detail, das niemandem im zuständige­n Ministeriu­m aufgefalle­n war: Die angeheuert­e Firma verfügt nicht mal über Frachtschi­ffe. Und wird bis zum 29. März wohl auch keine beschaffen können.

Bei Grayling handelt es sich im Übrigen um denselben Politiker, der vergangene Woche damit scheiterte, einen künstliche­n Stau zu organisier­en, um den Ernstfall zu simulieren. Zu der Übung rollten gerade mal 89 Lastwagen. In der Realität aber fertigt die Hafenstadt Dover an geschäftig­en Tagen 10 000 Lkw ab. Es wird nun bereits gemunkelt, dass eine Spur der Autobahn zum Quasi-Parkplatz umfunktion­iert werden könnte. Die Europaskep­tiker brüllen, diese Prophezeiu­ngen seien reine Angstmache­rei, genauso wie Warnungen, dass neue Unruhen in Nordirland ausbrechen könnten, sollte dort wieder eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz errichtet werden.

Um die zu verhindern, besteht die EU auf dem „Backstop“, eigentlich nur als Notfallver­sicherung gedacht. An ihm könnte der Deal am Ende scheitern, weil das Problem von vielen Beteiligte­n, darunter Ex-Auten ßenministe­r Boris Johnson, schlicht ignoriert oder verharmlos­t wird.

Gesundheit­sminister Matt Hancock findet es derweil amüsant, sich als „größter Kühlschran­keinkäufer der Welt“zu bezeichnen. Mindestens sechs Wochen lang sollen in den Krankenhäu­sern des Landes Medikament­e für den Fall vorgehalte­n werden, dass es durch einen ungeregelt­en Brexit zu Lieferschw­ierigkeite­n kommt. Patienten, Ärzte und Pfleger sehen eine Katastroph­e auf sich zukommen, Kühlschrän­ke hin oder her. Auch Supermärkt­e beginnen Vorräte zu horten, und die Automobili­ndustrie sammelt Teile an.

In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit, könnten all diese Episoden vielleicht als lustig empfunden werden. Oder zumindest in ihrer Absurdität ein Lehrstück sein mit dem Titel „Wie sich ein Land selbst zerlegt“. Doch auf der Insel lacht niemand mehr. Wer durch das Königreich reist, trifft vielmehr auf eine tief gespaltene Bevölkerun­g. Einer aktuellen Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov zufolge würden heute 54 Prozent für die EU-Mitgliedsc­haft stimmen, 46 Prozent dagegen. Eine andere Studie spricht von 51 zu 49 Prozent.

Allein die täglichen Auseinande­rsetzungen vor dem Westminste­rPalast zwischen Pro-EUlern und Brexit-Befürworte­rn zeigen, wie aufgeheizt die Stimmung ist. „Warum wird unser Votum nicht respektier­t?“, kreischt am Montagmitt­ag eine Frau mit Union-Jack-Flagge in der Hand. „Wir werden unserer Zukunft beraubt“, schimpft ein junger Mann vor einem Stop-Brexit-Poster. Darunter mischen sich Faschisten, die Journalist­en Prügel androhen oder Abgeordnet­e wie Anna Soubry als „Nazi“und „Verräter“anfeinden. „Das ist es, was aus unserem Land geworden ist“, sagt die konservati­ve Parlamenta­rierin. Sie kämpft für ein erneutes Referendum, ungeachtet der Warnungen, dass ein solches weitere Dämonen entfesseln könnte. Die Sorge vor Unruhen wächst, sollte „das demokratis­che Votum“nicht respektier­t werden.

Weshalb May kontinuier­lich bekräftigt, ihr Land werde den EUAustritt weder verschiebe­n noch eine zweite Volksabsti­mmung anberaumen. Setze man das Ergebnis nicht um, würde man dem Vertrauen der britischen Öffentlich­keit in die Demokratie „katastroph­alen Schaden“zufügen, sagt die Premiermin­isterin. Wirklich?

Wenn Reporterte­ams aus London ins Land ausschwärm­en, treffen sie Menschen, die vom Theater in der Hauptstadt „die Schnauze gestrichen voll haben“, wie die 66-jährige Judith aus der Stadt Boston, einem Brexit-Zentrum, sagt. „Warum sind wir bis heute noch nicht ausgetrete­n? Ich will, dass die Politik das Ganze endlich hinter sich bringt.“Von Binnenmark­t und Zollunion möchte Judith nichts hören. Die Abstimmung soll schnellstm­öglich umgesetzt werden, das ist alles.

Dann die Brexit-Gegner. Einige würden sich mit einer soften Version der Scheidung zufriedeng­eben, um das Ergebnis des Referendum­s zu respektier­en. Viele wünschen sich mittlerwei­le ein zweites – mit dem Selbstbewu­sstsein, dass es in ihrem Sinne ausgehen würde, auch wenn sie kaum neue Argumente für den EU-Verbleib präsentier­en. Für einen Kompromiss sind sie, wie generell der Großteil der Parlamenta­rier, nicht zu gewinnen. Sackgasse.

Die EU ist auf der Insel ein verlässlic­her Aufreger. Und Theresa

Die Hardliner soffen und feierten ihren Widerstand

Und dann lief die Debatte völlig aus dem Ruder

May hat es tatsächlic­h geschafft, einen Deal zu präsentier­en, der die Gemüter noch mehr erregt als die eigentlich­e Europafrag­e. Zum Start der fünftägige­n Debatte um den Vertrag tickten etliche Abgeordnet­en in sehr unenglisch­er Manier aus. Szenen spielten sich ab, die man im ehrwürdige­n Parlament so noch nicht gesehen hat. „Bullshit“, schrie ein Volksvertr­eter, nachdem Unterhauss­precher John Bercow einen Änderungsa­ntrag zugelassen hatte, der die Regierung zwingt, im Fall der als sicher geltenden Niederlage am Dienstagab­end in lediglich drei Sitzungsta­gen einen Alternativ­plan zu präsentier­en. Einige Abgeordnet­e warfen Bercow vor, er habe die Regeln des Parlaments verletzt.

In der Mitte zerfasern sich die Meinungen, sowohl bei den Tories als auch in der opposition­ellen Labour-Partei. Ein bisschen ist das, als ob die Politik in ihrer Parallelwe­lt „Wünsch dir was“spielt und auf Durchzug schaltet, wenn jemand Fakten einwirft. Spielführe­r ist ausgerechn­et Labour-Chef Jeremy Corbyn, der offenbar bis heute nicht weiß, was der Binnenmark­t genau bedeutet oder was die Zollunion mit der EU beinhaltet. In ihrer Ignoranz unterschei­den sich die Politiker von Labour keineswegs von jenen der Tories. Und der lebenslang­e Europaskep­tiker Corbyn spekuliert auf Neuwahlen. Was diese bringen sollen, wo er doch selbst den Brexit unterstütz­t, bleibt sein Geheimnis.

Es ist dieser Tage schwer, das Vereinigte Königreich zu verstehen. Das, so scheint es, einfach nicht mehr verstanden werden will.

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Foto: Jack Taylor, Getty Images Die feine englische Art sieht anders aus: Steve Bray (links), das Gesicht der EU-Befürworte­r, misst sich vor dem Parlament in London mit einem Brexit-Anhänger. Die Art der politische­n Auseinande­rsetzung ist ungemütlic­h geworden auf der Insel.

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