Augsburger Allgemeine (Land West)
Wenn Zeugen vor Angst zittern
Justiz Im Verfahren um die Tötung der Prostituierten Angelika Baron 1993 berichten Menschen aus der Szene von einem gefährlichen Milieu. Die entscheidenden Verhandlungstage allerdings stehen erst noch an
Die Frau traut sich kaum in den Gerichtssaal. Sie blickt in Richtung der Zuschauerreihen, als sie in den Raum geht, setzt sich zögerlich auf den Zeugenstuhl, muss dort ein paar Mal durchatmen. Sie habe „furchtbare Angst“, dass Menschen aus dem Milieu da sein könnten, berichtet sie. Personen also aus der Augsburger Rotlichtszene der 90er Jahre. Zuhälter vor allem. Was in diesen Tagen am Landgericht verhandelt wird, liegt mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. Dass manche Beteiligte heute noch vor Furcht regelrecht zittern, weil die Möglichkeit besteht, dass sie auf Protagonisten von damals treffen, sagt einiges über die Rotlichtszene der Zeit aus.
Die Zeugin ist eine ehemalige Prostituierte, die im Mordprozess um die Tötung von Angelika Baron im Jahr 1993 dazu beitragen soll, das Umfeld des Verbrechensopfers zu beleuchten. Angelika Baron war ebenfalls Prostituierte, die Zeugin kannte sie. „Ich hab’ die Anschi to- tal gerne gemocht“, sagt sie. Die Frau berichtet, Einnahmen immer in ihren Socken zwischengelagert zu haben. „Die Anschi hat das, glaube ich, auch so gemacht“, sagt sie.
Auf der Anklagebank vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichtes sitzt Stefan E., 50 Jahre alt. Die Ermittler gehen davon aus, dass er Angelika Barons letzter Freier war und sie unter anderem deswegen umbrachte, um an Geld zu gelangen, das sie zwischen zwei übereinander getragenen Socken am linken Fuß gesteckt hatte. Die Zeugin ist nicht die einzige, die vor Personen aus dem damaligen Rotlichtmilieu noch Angst hat. Eine weitere Ex-Prostituierte berichtet zudem, auch Angelika Baron habe damals ständig Angst gehabt. Wovor? „Vor allem Möglichen“, sagt die Frau. Etwa, wenn jemand im Gebüsch gestanden habe. Die Zeugin berichtet von der Praxis der Prostituierten, zum Sex mit den Freiern nur ein Hosenbein zu entkleiden.
Es sind viele kleine Informationshappen, die am Ende ein Gesamtbild ergeben könnten. Ein ehemaliger Zuhälter, Anfang der 90er Jahre wohl eine große Nummer im Augsburger Milieu, erscheint hingegen zunächst einmal nicht als Zeuge. Am Montagvormittag geladen, lässt er sich entschuldigen, weil er, wie er der Kammer mitteilt, seit Jahren an einer Lungenkrankheit leide, die ihm die Anreise bei dem Wetter unmöglich mache. Ein weiterer Protagonist aus der damaligen Rotlichtszene erzählt, er hatte „eine Frau“auf der Straße, war also ebenfalls Zuhälter, kann ansonsten aber nicht viel beitragen.
Der Prozess gegen Stefan E. läuft seit etwas mehr als einem Monat, acht Verhandlungstage waren es bisher. Er hat bislang keine gravierenden Erkenntnisse geliefert, die für sich genommen darauf schließen ließen, dass der Angeklagte der Mörder ist. Dies überrascht aber nicht; die Kammer hat den Mammut-Prozess so strukturiert, dass zunächst Menschen aus dem Umfeld des Opfers aussagen und deren Gewohnheiten und Lebensumstände schildern sollen. Harte Indizien sind da eher nicht zu erwarten. Ehemalige Freunde und Bekannte des Angeklagten sind ebenso erst später im Prozess geladen wie die wichtigsten ermittelnden Polizisten, darunter zwei verdeckte Ermittler. Ihre Aussage soll in Bild und Ton in den Sitzungssaal übertragen werden. Die entscheidenden Verhandlungstage stehen also erst noch an. In welche Richtung der Prozess geht, lässt sich aktuell noch nicht abschätzen.
Bis Ende April sind Verhandlungstage angesetzt, das ist zumindest der aktuelle Stand. Viel abhängen dürfte vom DNA-Gutachten, dessen Präsentation noch aussteht. Moderne Analysemethoden haben offenbar ergeben, dass sich genetische Spuren des Angeklagten, darunter Sperma, an mehreren Stellen des Körpers der Toten befanden – wohl auch an den Socken an ihrem linken Fuß. Doch es sollen auch andere DNA-Spuren von Männern gesichert worden sein, die bis heute nicht identifiziert werden konnten. In einem Fall soll es sich bei den DNA-Spuren um Sperma handeln, das in der Vagina der Ermordeten gesichert wurde. Daneben dürfte es auf die Aussagen von Zeugen aus dem früheren Bekanntenkreis des Angeklagten ankommen, die sich erinnern wollen, dass sie damals einen hölzernen Möbelfuß im Besitz von Stefan E. gesehen haben.
Mit einem solchen Möbelfuß soll auf Angelika Baron eingeschlagen worden sein, ehe der Täter sie erwürgte; die Ermittler fanden den Fuß tags drauf neben der Leiche. Stefan E. schweigt im Prozess, gegenüber der Kripo stritt er die Vorwürfe ab. Auch gegenüber den beiden verdeckten Ermittlern räumte er die Tat offenbar nicht ein.
Der Einsatz der beiden speziell ausgebildeten Polizisten zeigt zugleich, mit welchem Aufwand die Ermittler den „Cold Case“ab 2016 noch einmal bearbeiteten. Die beiden bauten ab Dezember 2016 ein Vertrauensverhältnis zum Verdächtigen auf; einer der beiden soll sich mit Stefan E. rund 60 Mal getroffen haben.