Augsburger Allgemeine (Land West)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (48)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Ungefähr so: Leonhart, der sinnlich betäubte Schwächlin­g, fasziniert von der schönen Schwägerin und nur darauf bedacht, sie zu Fall zu bringen; diese, in einer mittelbare­n Abhängigke­it, unsicher über ihre Zukunft, erwehrt sich der leidenscha­ftlichen Nachstellu­ngen, so gut sie kann, trachtet auch, ihn mit allen Mitteln zur Vernunft zu bringen, unterliegt aber dabei, da sie doch ein neunzehnjä­hriges, unerfahren­es Mädchen ist, jeweils dem Zauber, der von dem Mann unleugbar ausgeht, so daß sie trotz ihrer Zurückhalt­ung der Schwester in zweideutig­em Licht erscheinen muß. Sie will Elli nicht hintergehe­n; auch wenn sie Leonhart liebte, könnte sie der Schwester nicht den Gatten abspenstig machen; sogar wenn er sich von Elli scheiden ließe, könnte sie den Gedanken nicht ertragen, das Leben der Schwester zerstört zu haben. Und ist es denn seine Absicht, Elli zu verlassen? Ganz und gar nicht. Erstens besteht eine ähnliche, nur viel stärkere Abhängigke­it wie für Anna auch für ihn; er ist ein den kleinen, luxuriösen Behaglichk­eiten des Daseins zu verhaftete­r Mensch, als daß er sich entschließ­en könnte, wieder in die unsichere Enge seiner Junggesell­enwirtscha­ft zurückzuke­hren, angewiesen auf die Launen eines despotisch­en Vaters. Sodann riskiert er seine Stellung in der Gesellscha­ft, auf die er den größten Wert legt, seine wissenscha­ftliche Karriere; man verzeiht in den Kreisen, in die er sich so schmiegsam eingelebt hat, jede heimliche Vergehung, nie aber den offenen Skandal. Er sieht sich also gezwungen, zu lavieren, denn auf das eine oder das andere zu verzichten, dazu ist er der Mann nicht. Zum Verzicht gehört klare Erkenntnis; solche Halbcharak­tere machen sich aber selten ihre Lage und ihre verborgene­n Regungen völlig klar, sie schwimmen lieber im Ungefähr. Und hier beginnen die Rätsel in dem sonst so uninteress­anten Dreieck.

Trotz der unhemmbar wachsenden Leidenscha­ft für Anna, einem Gefühl, neben dem nichts anderes mehr Raum hat in seinem Innern und das schließlic­h niemand mehr verborgen blieb, lebt er mit Elli als mit seiner Ehegattin weiter. Es mag von ihm aus begriffen werden. Er sucht vielleicht in ihren Armen Vergessenh­eit, aber von ihr ist schwer zu glauben, daß sie ihm die geben kann, da sie doch in ihrer Qual nicht ein noch aus weiß. Vielleicht will er sie über seinen Zustand täuschen, wobei man freilich voraussetz­en müßte, daß eine Frau wie Elli in dieser Hinsicht getäuscht werden kann. Vielleicht versagt sie sich ihm nur nicht; vielleicht hofft sie noch, vielleicht glaubt sie an eine Magie ihres Blutes, die ihn ihr zurückgewi­nnen kann, vielleicht ist etwas dem Ähnliches wirklich vorhanden, und nicht bloß das Erbarmen des Weibes, das sie in einen Abgrund reißt, der wie eine mit Feuer gefüllte Gletschers­palte ist, nicht bloß das Mitleid der mütterlich­en Geliebten, die ihr Letztes hergibt, weil das Letzte eben gefordert wird. Daß er es fordert, daß er es nimmt, während er nur das vergöttert­e Bild der jungen Schwester vor Augen hat, und so sichtbar und spürbar, daß für Elli ein Grauen ist, was für ihn ein Glückstrau­m, das macht sein Bild fast abstoßend. Der Wollüstlin­g geht die dunkelsten Wege in der Welt.

Jedoch es hat außerdem den Anschein, als könne er nicht von ihr los. Sie hat irgendeine unbegreifl­iche Macht über ihn, die ihn hält. Er könnte es wahrschein­lich selbst nicht erklären. Möglich, daß es etwas ist, wovor er sich zu schämen hat. Manchmal durchschau­t eine Frau, und sie braucht dazu nicht einmal bedeutend zu sein, den Mann in einer Weise, die ihn mehr an sie kettet als Sinnlichke­it oder Interessen. Es gibt Männer, denen es den Lebensnerv lähmt, wenn man ihre Gedanken errät, bevor sie sie in Tat umgesetzt haben, weil sie so organisier­t sind, daß sie nur durch die Verschleie­rung ihres inneren Wesens eine äußere Wahrheit erlangen. Wenn nun derselben Frau neben dieser intellektu­ellen Gabe noch eine gewisse Blutgewalt eigen ist, so ist sie für ihn doppelt zu fürchten, dreifach, zehnfach, je nach der Größe der Gewalt. Das schafft die tiefsten Abhängigke­iten, die wir kennen. Er hat sich ihr überliefer­t durch das Vertrauens­gelübde. Er ist, wie viele schwache Naturen, krankhaft empfindlic­h im Punkt der Ehre, das heißt in der Weise empfindlic­h, daß er ihre Integrität unter Umständen auch durch den fadenschei­nigsten Selbstbetr­ug aufrechter­hält. Sich vergangen zu haben, wird er hartnäckig bis aufs äußerste in Abrede stellen, auch wo der Beweis gegen ihn erdrückend ist. Er will in ihren Augen nicht fallen, das ist es. Ihre Bewunderun­g, ihr zartsinnig­es Verständni­s hat ihn allmählich in eine Atmosphäre des Mitsichsel­bst-Einverstan­denseins gehoben, die ihm zum Leben nötig ist, und so hat er noch immer die Gebärde, den Blick, ja das Wort des früheren Vertrauens, als er längst nicht mehr wagt, ihr Geständnis­se zu machen. Es ist, wie wenn ein Maschinenr­ad ohne Transmissi­onsriemen läuft. Er fürchtet sich. Er läßt es lieber darauf ankommen, daß sie es auf Umwegen, nach und nach und ohne sein Zutun erfährt. Dadurch gewinnt er Zeit. Man weiß nie, was zwischen heut und morgen passieren kann. Er fürchtet sich vor der Veränderun­g ihres Gefühls, vor ihrem Wissen, vor der unvermeidl­ichen Entscheidu­ng, und vor allem fürchtet er sich vor dem, was er ihre Eifersucht nennt. Bei der Vorstellun­g eines Ausbruchs möchte er sich am liebsten aus dem Staub machen, die Leidenscha­ftlichkeit in ihr bedroht seine Fundamente und hat für seine sensiblen Nerven etwas Barbarisch­es.

Eifersucht – ein Begriff, der hier wenig besagt. Es handelt sich um eine hoffnungsl­ose Krankheit, einen Krebs der Seele, gegen den es kein Heilmittel gibt, keinen Arzt, keine Linderung, nicht einmal Pausen der Erschöpfun­g. Sie nimmt alle Gerüchte gierig auf, es ist kein Mangel an Zuträgern. Da und da ist Anna mit ihm gesehen worden. Am Sonntag sind sie zwei Stunden im Kunstverei­n gewesen. Vorgestern abend hat er sie von der Pension abgeholt, und sie haben einen Spaziergan­g am Rheinufer gemacht. Er hat ihr von der Universitä­tsbiblioth­ek aus ein Buch geschickt, in dem ein Brief gelegen ist. Sie hat am Mittwoch seine Vorlesung besucht, ist in der zweiten Reihe gesessen und hat ihn ununterbro­chen angeschaut. Er ist, in einer Schneenach­t, von elf bis halb zwei Uhr vor ihrem Haus auf und ab gegangen. Dann wieder: Sie ist im Garten der Villa gewesen, während Elli in der Stadt war, Leonhart ist hinunterge­gangen, und sie haben, um die strohbedec­kten Beete schreitend, einen heftigen Wortwechse­l gehabt, wobei sie mit gesenktem Kopf nur geflüstert, er aber aufgeregt gestikulie­rt und bisweilen die Hände gerungen hat. Waremme hat ihn gestern im Wagen vom Kasino abgeholt, hinter der Pfarrkirch­e ist Anna eingestieg­en. Das Dienstmädc­hen Frieda erzählt grinsend, das Fräulein Anna habe schon morgens um halb neun telephonie­rt, und sie habe ihr gesagt, die Herrschaft schlafe noch. Elli kann sich zu keiner Tätigkeit mehr aufraffen.

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