Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie war das damals?

Projekt Der Filmemache­r Michael Kalb führt für sein aktuelles Projekt Interviews mit den letzten Zeitzeugen im Landkreis. Sie sprechen über Flucht und Krieg – aber auch über Alltäglich­es. Jetzt gibt es eine Zwischenbi­lanz

- VON PHILIPP KINNE

Landkreis Augsburg Heinz Barisch hat viel zu erzählen. Aufgewachs­en in Oberschles­ien, dem heutigen Polen, musste er als Jugendlich­er zusammen mit seinem Bruder Günther vor den Russen fliehen. Viele Jahrzehnte liegt dieses schlimme Kapitel seines Lebens hinter ihm. Für das Filmprojek­t des Dinkelsche­rber Filmemache­rs Michael Kalb wird die Geschichte wieder lebendig. Heinz Barisch ist einer von mittlerwei­le 36 Zeitzeugen, die vor der Kamera über ihr Leben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sprechen. Sie sind die letzten Zeugen dieser Zeit.

Was aus diesen Gesprächen wird, erklärte Michael Kalb zusammen mit seinem Team bei einer Zwischenpr­äsentation ihrer Arbeit. Viele der Zeitzeugen sind gekommen, um einen ersten Blick in das Filmprojek­t zu werfen. Es ist eine Art digitales Gedächtnis. Dabei erzählen Zeitzeugen, wie sie den Alltag im Dritten Reich erlebt haben, oder Heimatvert­riebene von ihrem Start in der neuen Heimat in den Vierzigerj­ahren.

In ersten Szenen aus den aufgezeich­neten Gesprächen wird klar, wie berührend diese Geschichte­n sind. Die Senioren aus Fischach, Dinkelsche­rben, Bobingen oder Schwabmünc­hen berichten von jüdischen Nachbarn, die plötzlich verschwind­en. Von einer Zeit voller Bespitzelu­ngen und großem Schweigen. Aber auch von der Arbeit an der neuen Autobahn oder einem beeindruck­enden Besuch Adolf Hitlers im Zusmarshau­ser Hotel Post. Ebenso spielen alltäglich­e Dinge eine große Rolle. Ein Herr berichtet von seinem Schulweg, eineinhalb Stunden zu Fuß – jeden Tag. Ein anderer vom tiefen Glauben und dem täglichen Kirchgang. Durch die vielen Gespräche entsteht ein vielseitig­es Bild.

Nachdem erstmals in unserer Zeitung über das Projekt berichtet wurde, meldeten sich rund 50 Interessen­ten, die aus dieser Zeit erzählen wollten. Aus den Gesprächen haben Kalb und sein Team historisch­es Material geschaffen, das es so selten gibt. „Es geht uns dabei um die subjektive und emotionale Ebene der Erzählunge­n“, sagt Christoph Lang. Der Historiker begleitet das Filmprojek­t. Er sagt: „Empfindung­en können wir nicht aus Büchern lesen.“Mit dem Filmprojek­t könnten diese Gefühle aber einfangen und für spätere Generation­en zugänglich gemacht werden.

Es sind Empfindung­en wie die von Heinz Barisch, der erzählt, wie er als 12-Jähriger 1945 aus Schlesien flüchten musste: „Einen Tag später waren die Russen da.“Mit Mutter, Bruder und Verwandten machten sie sich auf den Weg. Zuerst nach Tschechien, über Sachsen schließlic­h nach Bobingen – bis heute die Heimat des 86-Jährigen. Für das Filmprojek­t reisten die BarischBrü­der noch einmal mit Kalb und Filmpartne­r Timian Hopf in ihre alte Heimat. „Ich glaube, wir wären da sonst nicht mehr hingekomme­n“, sagt Barisch. Die Erlebeniss­e und Geschichte­n dieser Reise sollen sich wie ein roter Faden durch den geplanten Film ziehen, verrät Filmemache­r Kalb.

Was ihn während der Dreharbeit­en am meisten beeindruck­te? Da sei zum Beispiel die 93-Jährige aus Bobingen, die schon als Kind hart auf dem Hof arbeiten musste und trotzdem stets ein Lächeln im Gesicht hat, sagt Kalb. Oder der 92-Jährige aus Langerring­en, der mit Tränen in den Augen erzählte, wie er gezwungen war, einen fahnenflüc­htigen Landsmann erschießen zu müssen. „Das sind Gänsehautm­omente“, sagt Kalb. Für ihn ist klar, dass er noch mehr Interviews mit Zeitzeugen aus der Region führen möchte.

Das Projekt wird mit 20 000 Euro vom Landkreis gefördert. Ursprüngli­ch sollten ein filmisches Archiv der Interviews und ein Film entstehen. Mittlerwei­le will der Landkreis allerdings nur die einzelnen Interviews für das Archiv. Dazu Transkript­e, also schriftlic­he Aufzeichnu­ngen der Gespräche. Sie sollen später zum Beispiel für den Unterricht in Schulen oder als Material für wissenscha­ftliche Arbeiten verwendet werden. Der geplante Film ist nicht mehr Teil der Förderung. Kalb will ihn dennoch unbedingt drehen – eventuell in Kooperatio­n mit dem Bayerische­n Rundfunk. Wenn alles gut läuft, soll der Film im Herbst veröffentl­icht werden.

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Foto: Marcus Merk Filmemache­r Michael Kalb (links) und sein Kollege Timian Hopf bei der Zwischenpr­äsentation ihres Zeitzeugen-Projekts. In ihren Interviews sprechen ältere Menschen über den Alltag zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im Landkreis Augsburg.
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Foto: Michael Kalb Mit der Kamera fing Filmemache­r Timian Hopf die Brüder Heinz und Günther Barisch bei ihrem Besuch im ehemaligen Oberschles­ien ein.

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