Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie war das damals?
Projekt Der Filmemacher Michael Kalb führt für sein aktuelles Projekt Interviews mit den letzten Zeitzeugen im Landkreis. Sie sprechen über Flucht und Krieg – aber auch über Alltägliches. Jetzt gibt es eine Zwischenbilanz
Landkreis Augsburg Heinz Barisch hat viel zu erzählen. Aufgewachsen in Oberschlesien, dem heutigen Polen, musste er als Jugendlicher zusammen mit seinem Bruder Günther vor den Russen fliehen. Viele Jahrzehnte liegt dieses schlimme Kapitel seines Lebens hinter ihm. Für das Filmprojekt des Dinkelscherber Filmemachers Michael Kalb wird die Geschichte wieder lebendig. Heinz Barisch ist einer von mittlerweile 36 Zeitzeugen, die vor der Kamera über ihr Leben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sprechen. Sie sind die letzten Zeugen dieser Zeit.
Was aus diesen Gesprächen wird, erklärte Michael Kalb zusammen mit seinem Team bei einer Zwischenpräsentation ihrer Arbeit. Viele der Zeitzeugen sind gekommen, um einen ersten Blick in das Filmprojekt zu werfen. Es ist eine Art digitales Gedächtnis. Dabei erzählen Zeitzeugen, wie sie den Alltag im Dritten Reich erlebt haben, oder Heimatvertriebene von ihrem Start in der neuen Heimat in den Vierzigerjahren.
In ersten Szenen aus den aufgezeichneten Gesprächen wird klar, wie berührend diese Geschichten sind. Die Senioren aus Fischach, Dinkelscherben, Bobingen oder Schwabmünchen berichten von jüdischen Nachbarn, die plötzlich verschwinden. Von einer Zeit voller Bespitzelungen und großem Schweigen. Aber auch von der Arbeit an der neuen Autobahn oder einem beeindruckenden Besuch Adolf Hitlers im Zusmarshauser Hotel Post. Ebenso spielen alltägliche Dinge eine große Rolle. Ein Herr berichtet von seinem Schulweg, eineinhalb Stunden zu Fuß – jeden Tag. Ein anderer vom tiefen Glauben und dem täglichen Kirchgang. Durch die vielen Gespräche entsteht ein vielseitiges Bild.
Nachdem erstmals in unserer Zeitung über das Projekt berichtet wurde, meldeten sich rund 50 Interessenten, die aus dieser Zeit erzählen wollten. Aus den Gesprächen haben Kalb und sein Team historisches Material geschaffen, das es so selten gibt. „Es geht uns dabei um die subjektive und emotionale Ebene der Erzählungen“, sagt Christoph Lang. Der Historiker begleitet das Filmprojekt. Er sagt: „Empfindungen können wir nicht aus Büchern lesen.“Mit dem Filmprojekt könnten diese Gefühle aber einfangen und für spätere Generationen zugänglich gemacht werden.
Es sind Empfindungen wie die von Heinz Barisch, der erzählt, wie er als 12-Jähriger 1945 aus Schlesien flüchten musste: „Einen Tag später waren die Russen da.“Mit Mutter, Bruder und Verwandten machten sie sich auf den Weg. Zuerst nach Tschechien, über Sachsen schließlich nach Bobingen – bis heute die Heimat des 86-Jährigen. Für das Filmprojekt reisten die BarischBrüder noch einmal mit Kalb und Filmpartner Timian Hopf in ihre alte Heimat. „Ich glaube, wir wären da sonst nicht mehr hingekommen“, sagt Barisch. Die Erlebenisse und Geschichten dieser Reise sollen sich wie ein roter Faden durch den geplanten Film ziehen, verrät Filmemacher Kalb.
Was ihn während der Dreharbeiten am meisten beeindruckte? Da sei zum Beispiel die 93-Jährige aus Bobingen, die schon als Kind hart auf dem Hof arbeiten musste und trotzdem stets ein Lächeln im Gesicht hat, sagt Kalb. Oder der 92-Jährige aus Langerringen, der mit Tränen in den Augen erzählte, wie er gezwungen war, einen fahnenflüchtigen Landsmann erschießen zu müssen. „Das sind Gänsehautmomente“, sagt Kalb. Für ihn ist klar, dass er noch mehr Interviews mit Zeitzeugen aus der Region führen möchte.
Das Projekt wird mit 20 000 Euro vom Landkreis gefördert. Ursprünglich sollten ein filmisches Archiv der Interviews und ein Film entstehen. Mittlerweile will der Landkreis allerdings nur die einzelnen Interviews für das Archiv. Dazu Transkripte, also schriftliche Aufzeichnungen der Gespräche. Sie sollen später zum Beispiel für den Unterricht in Schulen oder als Material für wissenschaftliche Arbeiten verwendet werden. Der geplante Film ist nicht mehr Teil der Förderung. Kalb will ihn dennoch unbedingt drehen – eventuell in Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk. Wenn alles gut läuft, soll der Film im Herbst veröffentlicht werden.