Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Papst ist nicht bereit, die Kirche zu erneuern

Leitartike­l Der Anti-Missbrauch­s-Gipfel im Vatikan ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Den Worten folgen keine Taten. Verantwort­lich ist Franziskus höchstpers­önlich

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN pol@augsburger-allgemeine.de

Im Schnitt macht sich jeden Tag ein Priester schuldig

Jesus Christus war vor 2000 Jahren wohl das, was man heute einen spirituell­en Freak nennen würde. Er sprach absurd anmutende Mantras wie „Liebet eure Feinde“oder „Selig sind die Sanftmütig­en“. Wie damals beherzigen auch heute die meisten Menschen ganz andere Grundsätze. Über Feinde wird allgemein angenommen, man müsse sie bekämpfen. Und den Ton geben nicht die Sanftmütig­en an, sondern diejenigen, die besonders laut sind. Die einfachen Lehren Jesu Christi haben also auch heute viel Potenzial. Die Frage ist, wie viel Potenzial die Gemeinscha­ft noch hat, die im Namen Jesu seine Lehren in der Welt vertreten will.

Nach der Rede zu urteilen, die Papst Franziskus am Sonntag zum Abschluss der viertägige­n Vatikankon­ferenz zum Thema sexueller Missbrauch im Klerus hielt, hat die katholisch­e Kirche keine Kraft, sich zu erneuern. Zu Beginn der Tagung war es Franziskus selbst, der „Konkrethei­t“forderte. Am Ende lieferte er erneut eine vage Absichtser­klärung darüber, wie sich die Kirche beim Schutz von Minderjähr­igen engagieren will. Und er teilte aus: gegen ideologisc­he Polemiken und journalist­ische Kritik. Von den sanftmütig­en, reuigen Blicken, die auch Franziskus in den vergangene­n Tagen erkennen ließ, war am Sonntag keine Spur mehr.

Um Bekenntnis­se und Ankündigun­gen weiter ernst nehmen zu können, ist zu viel passiert in der Kirche. Man muss gar nicht weit in die Vergangenh­eit und auf die jüngsten Enthüllung­en in den USA oder Chile blicken. Allein während des Pontifikat­s Jorge Bergoglios seit 2013 sollen über 2200 katholisch­e Priester von Bischöfen im Vatikan wegen Missbrauch­s angezeigt worden sein. Jeden Tag wird damit durchschni­ttlich ein Priester im Vatikan gemeldet, dem glaubwürdi­g Missbrauch vorgeworfe­n wird. Die Kirche hat das Missbrauch­sDrama nicht im Griff, es ist noch immer in vollem Gange. Das große Dilemma der katholisch­en Kirche wurde offensicht­lich: Wenn der Papst nicht selbst vorangeht, irrt seine Herde umher. Es waren viele sinnvolle Vorschläge auf der Antimissbr­auchskonfe­renz zu hören. Reue und Schuldbeke­nntnisse der Bischöfe waren zahlreich und glaubwürdi­g wie selten. Aber die Kluft zwischen den seit Jahren um dieselben Gedanken kreisenden Worten und der konkreten Umsetzung dieser Elemente wurde nun überdeutli­ch. Anstatt zu beschleuni­gen und den Kinderschu­tz wirklich universal effektiv zu gestalten, bremst der Papst höchstpers­önlich. Was hindert ihn, endlich konsequent durchzugre­ifen?

Die zentralist­isch geführte Kirche beruft sich bei diesen Gelegenhei­ten gerne auf die kulturelle­n Unterschie­de, die ein ausgewogen­es Vorgehen notwendig machen würden. Während in Afrika und Asien kaum offen über Sexualität oder gar Missbrauch gesprochen werden kann, sind westliche Gesellscha­ften viel weiter. Das ist richtig. Doch Betroffene­n in den jeweiligen Kontinente­n hilft man mit dieser Argumentat­ion nicht, im Gegenteil. Das Gebot der Stunde aber wäre: Papst Franziskus müsste endlich konsequent durchgreif­en gegen jeden Priester und Bischof, der sich des Missbrauch­s oder seiner Vertuschun­g schuldig macht, und ihn entlassen.

Offenbar will der zu Beginn seines Pontifikat­s als Revolution­är verklärte Franziskus das nicht. Eine Erklärung dafür dürfte in seiner eigenen Vergangenh­eit liegen. Als Erzbischof von Buenos Aires lag auch Jorge Bergoglio mehr am Ansehen der Institutio­n als an den Opfern, selbst als Papst ist Franziskus nicht über alle Zweifel erhaben, schützte immer wieder Täter. Null Toleranz, das hieße, sich auch zu den eigenen, ganz persönlich­en Fehlern zu bekennen. Dazu ist dieser Papst nicht bereit.

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