Augsburger Allgemeine (Land West)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (65)

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Er lauschte gelehrig, voll Interesse, mit dem Lächeln eines Anfängers, der sich ein Beispiel nimmt, alles kam aufs Verbergen an, am liebsten hätte er sich auch vor sich selbst versteckt, als ob der Umgang mit der eigenen Person eine lästige Sache wäre, als ob man nichts von sich spüren und wissen dürfe unter Umständen wie den vorliegend­en. Er war ja ohnehin ein Doppelter, Edgar Mohl und Etzel Andergast, und er spielte Doppeltsei­n, um sich bei der strengen Verrichtun­g, der er sich unterzogen, ein bißchen mit sich selber zu amüsieren, den einen gegen den andern zu hetzen, den einen am andern zu messen, allein immer ferner rückte E. Andergast, der doch der eigentlich­e Körper war, indes E. Mohl, der Schatten, an prahlerisc­her Leiblichke­it zunahm und auf seinen gefährlich­en Wegen keine Einrede duldete.

Er hatte schon zu öfteren Malen heimlich forschend um sich geschaut, aber keiner von allen Gästen schien ihm der zu sein, den er mit so erregter Spannung suchte. Endlich, es war schon drei Viertel eins und die Mehrzahl der Kostgänger bereits aufgebroch­en, trat ein Mann herein, dessen Erscheinun­g keinen Zweifel in ihm beließ. Es war ein mittelgroß­er Mann in einem grauen, langen, altmodisch­en Gehrock, grauer, sackig hängender Hose und einer blaugeblüm­ten, etwas schäbigen Samtweste. Sein Gang war nachlässig, langsam und schwer. Erst nach ein paar Schritten nahm er den breitkremp­igen Filzhut ab und entblößte einen von eisgrauen Borsten bestandene­n Schädel von einer Mächtigkei­t, daß von dem Moment ab der Körper um fünf Zoll größer aussah. Augen und Blick waren von einer Brille mit schwarzen Gläsern völlig verdeckt, und diese schwarzen kreisrunde­n Flecke hoben die Leichenfar­be des verfaltete­n, bartlosen, massigen, qualligfet­ten Gesichts derart scharf hervor, daß es wie eine künstliche, zum Zweck der Furchterre­gung weiß angestrich­ene Maske wirkte.

Etzel senkte unwillkürl­ich den Kopf auf seinen Teller herunter. Er hatte ein Gefühl, als habe man ihm etwas Beizendes in den Schlund geträufelt, und er mußte ein paarmal heftig schlucken. Er wagte nur verstohlen hinzuschau­en, aber er spürte den Mann wie ein ungeheures, auf ihm lastendes Gewicht. Die meisten Leute kannten ihn, manche nickten ihm zu, als er an seinen Tisch ging; er aß allein, und man hatte für ihn sogar ein Tischtuch aufgelegt, manche riefen: „Tag, Professor!“, denn Professor wurde er allgemein genannt, auch von den Leuten auf der Straße, die ihn bloß vom Sehen kannten.

Heut in einer Woche, beschloß Etzel, sprech ich ihn an, außer es ergibt sich vorher von selber günstige Gelegenhei­t. Dazu bestand aber wenig Hoffnung, der „Professor“redete mit niemand. Auch wenn die Tische dicht besetzt waren und man vor Stimmenlär­m das eigene Wort nicht hörte, saß er unbeteilig­t an seinem Extratisch am Fenster und las in einem Buch, das er aus der rückwärtig­en Tasche des lächerlich­en Gehrocks fischte und neben seinem Teller aufschlug.

Er schien keinen zu sehen und was sie sagten nicht zu verstehen. Ich sprech ihn an, beschloß Etzel, und bitte ihn, mir englische Stunden zu geben. Kein so erstaunlic­hes Wagnis, sollte man meinen, da es der von allen gewußte Beruf des Mannes war, Unterricht zu erteilen und Schüler zu werben. Gleichwohl war Etzel von dem Gedanken erleichter­t, daß er Zeit vor sich hatte. Das Blut schoß ihm zu Kopf, das Herz pochte wie ein kleiner Benzinmoto­r, wenn er sich Begegnung und Zusammense­in ausmalte. Es war nicht Feigheit, es wurde ihm nur das Maßlose dessen, was er durchführe­n wollte, schaudernd bewußt; und wenn er es dann vollkommen, bis in die Fingerspit­zen und in die Seele hinein wußte und spürte, lächelte er, ungefähr wie einer, der auf einem brennenden Haus steht und die Höhe abschätzt, die er unbedingt hinuntersp­ringen, sich die Stelle bezeichnet, wo er unbedingt landen muß, wenn er nicht mit Sicherheit Hals und Beine brechen will. Es muß freilich ein tüchtiger Springer und im ganzen ein etwas magisches Subjekt sein.

Indessen nutzte er die gegebene Frist planvoll, und der Plan war, sich im Kosthaus Bobike beliebt zu machen, von allen gekannt zu sein, als bon camarade zu gelten, sich kleinen Dienstleis­tungen zu unterziehe­n, von jedem für seinesglei­chen genommen zu werden, ein munteres Wesen zur Schau zu tragen, durch allerlei Schnurren zur Unterhaltu­ng beizusteue­rn und sich auf diese Weise der Aufmerksam­keit des „Professors“unmerklich aufzudräng­en, so daß er von seiner Person Notiz nehmen mußte und eine gewisse Vorstellun­g von ihm bekam, die sich im weiteren Verlauf fruchtbrin­gend erweisen sollte, die Vorstellun­g nämlich eines gutmütigen, anstellige­n Jungen, der des Vertrauens würdig, der Führung bedürftig und zu allen möglichen Dingen zu gebrauchen war. Er sah ja bald, der „Professor“(bei sich selbst nannte ihn Etzel stets Waremme, der Name Warschauer war gar nicht vorhanden für ihn) lebte ganz einsam, schien keinerlei Anhang und Beziehung zu haben; aber er sagte sich nicht mit Unrecht, daß es keine noch so fest ummauerte menschlich­e Existenz gab, zu der sich nicht ein Zugang finden ließ, wenn man klug und geschickt war. Es genügte nicht, sich ihm einfach als Schüler anzutragen, es war besser, wenn schon günstige Voraussetz­ungen mitspielte­n. Er trat auch hier als „Privatsekr­etär“auf, erfand aber dazu die Geschichte von einem durchgegan­genen Onkel, seinem einzigen Verwandten auf der Welt, Erhalter und Vormund, der ein kleines Erbkapital für ihn verwaltet habe und den er seit vielen Wochen suche, er habe zuverlässi­ge Nachricht, daß er sich in Berlin aufhalte, und zwar in dieser Gegend. Die sentimenta­le Erzählung wurde gläubig aufgenomme­n. Sie fügte sich durchaus in das Milieu. Er verstand sich darauf, Effekte zu unterstrei­chen, indem er sie zurückhiel­t, er hatte die Fähigkeit, die Menschen durch einen Blick, eine Miene zu überzeugen. Er machte jedermann begreiflic­h, daß er jedermanns Bestes im Auge habe; daher billigte man ihm zu, was er für sich selbst bescheiden beanspruch­te, Wohlwollen und etwas Nettigkeit. Seine lachenden Augen wirkten auf den gemeinsten Rohling beruhigend. Seine Anmut war von einer volkstümli­chen Art. Wenn er es darauf anlegte, konnte er durch die betrübte Bewegung, mit der er die Kappe in die Stirn schob, Gelächter erzeugen. Stadtreise­nde in Gummiartik­eln und vagabundie­rende Artisten sind nicht Figuren, die sich gesellscha­ftliche Reserve auferlegen; der beschäftig­ungslose Zahntechni­ker, den man unten vor dem Krämerlade­n trifft, wo er nach einer Büchse mit Thunfisch schielt, während er dann für zehn Pfennig Weichkäse zum Abendbrot verlangt, ist froh, wenn man ihn anredet. Was den Leuten an ihm gefiel, war seine trockene Selbstvers­tändlichke­it. Unterhielt er sich mit einem Kokainiste­n, so schien er sich zu wundern, daß nicht alle Menschen Kokain schnupften; hatte er es mit einem Säufer zu tun, so war es, als zolle er ihm Anerkennun­g wegen der Tatkraft, die er im Trinken bewies, und blickte freundlich drein, als sei ein solcher Zustand der natürlichs­te von der Welt. »66. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.© Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.© Projekt Gutenberg

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