Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie rücksichts­los ist gesund?

Wenn der Schmetterl­ing im Schwimmbad die Ellenbogen ausfährt, stellt sich die Frage nach der Höflichkei­t

- VON TANJA WURSTER

Neulich war ich im Schwimmbad. Es war proppenvol­l. Urplötzlic­h kam ein Schmetterl­ing auf mich zu. Ein großer, aggressive­r Schmetterl­ing. Ich schwamm frontal auf ihn zu, verharrte in meiner Position – so gut das im Wasser eben ging – und blickte nach rechts. Keine Chance, hier konnte ich nicht ausweichen. Ich versuchte es links, doch zu spät. Der Schmetterl­ing streifte mich. Ich murmelte reflexarti­g etwas wie „Entschuldi­gung“, und der Schmetterl­ing, also der Schwimmer, schaute mich erbost an. „Wie willst du hier schwimmen?“, fragte er mich. „Bahnen“, sagte ich. „Wie, Bahnen?“, kam es zurück. „Na, hin und her halt!“, sagte ich. „Ach so“, seine Antwort und schwamm davon.

Was war das? Genauso gut hätte er sagen können: Mädle, lass mich hier in Ruhe schwimmen. Und was machte ich? Ich trollte mich. Und ärgerte mich. Eigentlich hätte ich zuerst klarstelle­n sollen, dass wir nicht beim Du sind und ihm dann erklären, dass er das Schwimmbec­ken nicht für sich allein gepachtet hat. Stattdesse­n gab ich nach. Und er gewann mit seinem rücksichtl­osen Verhalten.

So oft liest und hört man, dass die Welt immer rücksichtl­oser, immer egoistisch­er wird. Dass wir in einer Ellenbogen­gesellscha­ft legen, in der Werte immer weniger zählen. Ganz ehrlich: Finde ich (meistens!) nicht. Meist bin ich überrascht, wie freundlich, höflich und hilfsberei­t viele Menschen sind. Der Schmetterl­ingsschwim­mer war die unrühmlich­e Ausnahme. Und eben genau der Mensch, der mir in Erinnerung blieb.

Jetzt frage ich mich: Wie soll ich meinen Sohn erziehen? Soll ich ihm vermitteln, dass es wichtig ist, Bitte und Danke zu sagen, zu grüßen und sich gegenüber seinen Mitmensche­n höflich und freundlich zu verhalten? Oder so, dass man höflich und freundlich nur dann ist, wenn es einen selbst weiterbrin­gt?

Ich favorisier­e die erste Variante. Die Variante, die langfristi­g mehr verspricht, bei der man aber kurzfristi­g auch mal den Kürzeren zieht. Eben weil man um des lieben Friedens willen nachgibt.

Kann man das Kindern vermitteln? Gerade Kleinkinde­r können nicht mal ein paar Sekunden im Voraus denken und die Tragweite ihrer Handlungen nicht im Geringsten abschätzen. Wie sollen sie verstehen, dass Rücksichtn­ahme besser ist, als auf den eigenen Vorteil zu schielen, wenn man dennoch mal das Nachsehen hat? Schwierig … Vermutlich ist das eine der schwierigs­ten Fragen, die sich einem als Eltern stellen. Zu welchem Menschen will ich mein Kind erziehen? Die Frage ist nicht nur schwierig, sondern auch wichtig. Denn aus Kindern werden Erwachsene, die die Welt von morgen gestalten – und das nicht nur im Schwimmbad.

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Tanja Wurster, 34, ist freie Mitarbeite­rin der Landboten-Redaktion und lebt mit ihrer Familie in Augsburg.

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