Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie rücksichtslos ist gesund?
Wenn der Schmetterling im Schwimmbad die Ellenbogen ausfährt, stellt sich die Frage nach der Höflichkeit
Neulich war ich im Schwimmbad. Es war proppenvoll. Urplötzlich kam ein Schmetterling auf mich zu. Ein großer, aggressiver Schmetterling. Ich schwamm frontal auf ihn zu, verharrte in meiner Position – so gut das im Wasser eben ging – und blickte nach rechts. Keine Chance, hier konnte ich nicht ausweichen. Ich versuchte es links, doch zu spät. Der Schmetterling streifte mich. Ich murmelte reflexartig etwas wie „Entschuldigung“, und der Schmetterling, also der Schwimmer, schaute mich erbost an. „Wie willst du hier schwimmen?“, fragte er mich. „Bahnen“, sagte ich. „Wie, Bahnen?“, kam es zurück. „Na, hin und her halt!“, sagte ich. „Ach so“, seine Antwort und schwamm davon.
Was war das? Genauso gut hätte er sagen können: Mädle, lass mich hier in Ruhe schwimmen. Und was machte ich? Ich trollte mich. Und ärgerte mich. Eigentlich hätte ich zuerst klarstellen sollen, dass wir nicht beim Du sind und ihm dann erklären, dass er das Schwimmbecken nicht für sich allein gepachtet hat. Stattdessen gab ich nach. Und er gewann mit seinem rücksichtlosen Verhalten.
So oft liest und hört man, dass die Welt immer rücksichtloser, immer egoistischer wird. Dass wir in einer Ellenbogengesellschaft legen, in der Werte immer weniger zählen. Ganz ehrlich: Finde ich (meistens!) nicht. Meist bin ich überrascht, wie freundlich, höflich und hilfsbereit viele Menschen sind. Der Schmetterlingsschwimmer war die unrühmliche Ausnahme. Und eben genau der Mensch, der mir in Erinnerung blieb.
Jetzt frage ich mich: Wie soll ich meinen Sohn erziehen? Soll ich ihm vermitteln, dass es wichtig ist, Bitte und Danke zu sagen, zu grüßen und sich gegenüber seinen Mitmenschen höflich und freundlich zu verhalten? Oder so, dass man höflich und freundlich nur dann ist, wenn es einen selbst weiterbringt?
Ich favorisiere die erste Variante. Die Variante, die langfristig mehr verspricht, bei der man aber kurzfristig auch mal den Kürzeren zieht. Eben weil man um des lieben Friedens willen nachgibt.
Kann man das Kindern vermitteln? Gerade Kleinkinder können nicht mal ein paar Sekunden im Voraus denken und die Tragweite ihrer Handlungen nicht im Geringsten abschätzen. Wie sollen sie verstehen, dass Rücksichtnahme besser ist, als auf den eigenen Vorteil zu schielen, wenn man dennoch mal das Nachsehen hat? Schwierig … Vermutlich ist das eine der schwierigsten Fragen, die sich einem als Eltern stellen. Zu welchem Menschen will ich mein Kind erziehen? Die Frage ist nicht nur schwierig, sondern auch wichtig. Denn aus Kindern werden Erwachsene, die die Welt von morgen gestalten – und das nicht nur im Schwimmbad.