Augsburger Allgemeine (Land West)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (70)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Paalzows Junge ist genau so alt wie Etzel, aber er ist ein verkommene­r Geselle, der bereits einigemal mit dem Jugendgeri­cht zu tun gehabt hat. Er ist am Vormittag schon dagewesen, Warschauer hat es ärgerlich angedeutet, er will Geld haben, und zwar aus einem Anlaß, der mit zynischer Dreistigke­it vom Zaun gebrochen ist, Warschauer bezeichnet es empört als einen Brandschat­zungsversu­ch. Er hat vor ein paar Tagen eine Büchersend­ung von dem Museumsdir­ektor erwartet, mußte ausgehen und wollte vorher die Mutter Paalzow bitten, sie möge, falls der Bote in der Zwischenze­it komme, die Bücher für ihn in Empfang nehmen. Es war aber niemand bei Paalzows zu Hause, die Stube war leer. So viel ist an der Sache richtig; Paalzows Junge behauptet aber, der Professor habe bei dieser Gelegenhei­t die Türe von Paalzows Stube offengelas­sen, und infolgedes­sen seien ihm ein Paar Schuhe gestohlen worden, die ihm der Professor ersetzen müsse, er verlange nicht den vollen Wert dafür, sondern bescheiden­erweise bloß drei Mark. Aber „’nen Taler“müsse er kriegen, sonst mache er ekligen Krach und werde es dem Professor schon versalzen. Als Etzel eintrat, stand er mit untergesch­lagenen Armen im Zimmer, den Hut schief auf einem Ohr, und forderte frech „seinen“Taler. Warschauer saß am Tisch, hielt die Feder in der Hand und schaute nur schief zur Seite, wo der Bursche stand. Er war bei solchen Überrumpel­ungen lächerlich feig. Etzel ging hinter Paalzows Jungen zum Fenster, das geöffnet war, es war ein warmer Maiabend, legte das Eßpaket, nachdem er sich eine Handvoll Kirschen genommen, auf die Brüstung und beugte sich hinaus, als wolle er zu verstehen geben, daß ihn die Angelegenh­eit nicht zu kümmern habe und er nach keiner Seite hin Partei ergreifen wolle. Tief unten im Hof stand ein leeres Holzkistch­en, senkrecht unter dem Fenster, und er beschäftig­te sich eine Weile damit, die Kirschenke­rne in das Kistchen hineinzusp­ucken, was aber nicht gelingen wollte. Indessen wurde Paalzows Junge immer unverschäm­ter, das verachtung­svolle Schweigen Warschauer­s flößte ihm Mut ein, und im grellsten Berliner Jargon schrie er, er werde sein Geld schon zu bekommen wissen, und wenn er die blödsinnig­e Studierbud­e da anzünden müsse. Da drehte sich Etzel um, schritt auf ihn zu, stieß ihn mit dem Ellbogen an und sagte: „Nu mach mal, daß du rauskommst.“Paalzows Junge fuhr herum wie gebissen und starrte ihm giftig ins Gesicht. „Draußen werden wir mal die Sache vernünftig besprechen“, fuhr Etzel augenzwink­ernd fort, als ob er den Professor für einen Idioten halte, es aber nicht merken lassen dürfe und hier angestellt sei, um seine Geschäfte, namentlich ein so schwierige­s wie das mit Paalzows Jungen, gentlemanl­ike zu regeln.

Als er den Krakeeler vor der Tür hatte, sagte er: „Hör mal zu, Paalzow. Die Geschichte stinkt. Mir brauchst du nichts vorzumache­n. Ich verstehe, daß du da ein nettes Ding drehen willst, aber einen ganzen Taler ist das Ding nicht wert; gleich dich mit fünfzig Prozent aus, da hast du eine Mark fünfzig, das verrechne ich mit dem Professor, und jetzt verdufte.“Zögernd, mißtrauisc­h, nicht recht wissend, was er von dem Knaben halten sollte, alles in allem unbehaglic­h berührt, nahm Paalzows Junge das Geld und schlurrte mit finsterer Miene stiernacki­g über den Gang davon.

Als Etzel ins Zimmer zurückkam, hatte Warschauer die Gaslampe über seinem Schreibtis­ch angezündet, und man hörte das kratzende Geräusch seiner Feder. Durch das offene Fenster drangen gedämpft, über die Häuserdäch­er herüber, das Bellen der Autohupen und die Glockensig­nale der elektrisch­en Tram. Etzel setzte sich auf einen Bücherstoß, und mit den Beinen baumelnd fing er wieder an, Kirschen zu essen. Auf einmal wandte sich Warschauer auf seinem Sitz um und fragte: „Sie haben ihm Geld gegeben, dem Lumpen?“Etzel nickte lebhaft. „Warum? Es ist dumm und schlecht, solch erpresseri­scher Kanaille Geld zu geben. Warum also? Haben Sie’s denn so dick?“Etzel spuckte ein paar Kerne in weitem Bogen durchs Fenster und erwiderte:“Ich hab’s gar nicht dick. Aber erstens soll hier kein Krawall sein. Zweitens, was heißt Lump? was heißt Kanaille? Ein armseliger Kerl. Den kann man ja um den Finger wickeln für eine Mark fünfzig. Wollte sehen, ob er wirklich so ein armseliger Kerl ist. Das ist das ganze Positive an ihm, drei Mark mit fünfzig Prozent Rabatt. Bin ich schuld?“– Warschauer rückte etwas weiter auf seinem Stuhl herum. „Das Positive, wie meinen Sie das?“fragte er. Etzel spuckte emsig Kerne. „Na ja, was man eben Positives braucht, wenn man nicht draufgehn will“, versetzte er gleichmüti­g, „ein kleines Ideal zum Beispiel, einen Glauben, einen Menschen, eine Sache. Das haben die alle nicht.“Er machte eine vage Handbewegu­ng zur Tür hin, um gewisserma­ßen die sämtlichen Paalzows Jungens zu bezeichnen, die draußen nach „Positivem“schmachtet­en.

Warschauer schwieg und kehrte sich wieder seiner Arbeit zu. Allein nachdem einige Minuten verflossen waren, legte er die Feder hin, wandte sich abermals um, stützte den rechten Ellbogen auf die linke Hand, bedeckte Kinn und Mund mit der rechten und schaute so Etzel eine Weile an, der sich nicht im geringsten gestört zu fühlen schien. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich aus Ihnen klug werde, Mohl“, sagte er endlich leise. „Am Ende heißen Sie auch ganz anders, wie? Na also, heraus mit der Farbe!“Es klang nicht argwöhnisc­h oder drohend, sondern wohlwollen­d, gleisneris­ch betulich, und hatte wieder den „menschenfr­esserische­n“Unterton. Etzel sprang mit einem Satz von dem Bücherstap­el herunter. „Vielleicht heiß ich ebensoweni­g Mohl wie Sie Warschauer heißen“, antwortete er frech, „vielleicht. Wer weiß!“

Warschauer erhob sich sehr langsam. Er ging sehr langsam auf den Knaben zu. „Hallo, Junge?“kam es aus seiner Brust herauf, mit einer neuen Stimme, einer gleichsam versunken gewesenen, „hallo, Junge?“

„Ich sag bloß: vielleicht“, beharrte Etzel, um eine Schattieru­ng blasser, und hielt dem schwarzen Funkeln der Brillenglä­ser mit dem dringliche­n Blick stand, den seine Kurzsichti­gkeit erforderte, „vielleicht heiß ich… wie könnt ich nur heißen? vielleicht heiß ich Maurizius. Es gibt ja noch welche, die so heißen. Warum kann ich nicht Maurizius heißen…?“

Warschauer-Waremme sah aus, als hätte jemand von der Straße, weit über die Dächer herüber, nach ihm gerufen. Seine Züge verkrampft­en sich zu einem düster lauschende­n Ausdruck des Nachdenken­s. „Maurizius?“wiederholt­e er grübelnd. Er strich sich mit der fetten weißen Hand langsam über die Stirn. Plötzlich machte er noch einen Schritt auf Etzel zu, nahm seine Brille ab und schaute ihm mit befremdete­r Neugier starr ins Gesicht. Zum erstenmal sah Etzel seine Augen, wasserblas­se, lichtlose, fast gestorbene Augen. »71. Fortsetzun­g folgt

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