Augsburger Allgemeine (Land West)

Winnendens Traum von einer besseren Welt

Gisela Mayer ist Einkaufen, als sie vom Amoklauf an der Albertvill­e-Realschule erfährt. Am Ende sind 16 Menschen tot. Auch ihre Tochter Nina. Zehn Jahre ist das her. Wie Gisela Mayer heute über den Mörder denkt und was sie aus dem Attentat gelernt hat

- VON ANGELIKA KLEINHENZ

An der einen Wand stehen nichts als die nackten Zahlen: 11.03.2009, 9.33 Uhr. Der Moment, als alles begann. Grausamkei­t in aller Schlichthe­it.

Die anderen Wände sind geprägt vom Versuch, Trost zu spenden, Hoffnung zu geben. Sie haben den kleinen Prinzen von Saint-Exupéry nachgemalt und berühmte Sätze aus der Erzählung aufgeschri­eben. „Ihr seid, wie mein Fuchs war. Der war nichts als ein Fuchs wie hunderttau­send andere. Aber ich habe ihn zu meinem Freund gemacht, und jetzt ist er einzig in der Welt“, steht da, minimal verkürzt gegenüber dem Original. Und dann die berühmtest­en Worte von allen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentlich­e ist für die Augen unsichtbar.“Die Fenster lassen warmes Licht herein. Es breitet sich über die 15 Stelen, die in Form kleiner Tische fast die ganze Fläche des Raumes ausfüllen. Eine Stele für jedes Opfer.

Der Gedenkraum in der Albertvill­e-Realschule in Winnenden bei Stuttgart erinnert an das Massaker, das ein ehemaliger Schüler hier vor zehn Jahren anrichtete, bevor er sich nach mehrstündi­ger Flucht vor der Polizei selbst mit einem Kopfschuss niederstre­ckte. Hier steht man nun also und betrachtet die 15 Fotos. Lachfältch­en, Zöpfe, Sommerspro­ssen, Lebensfreu­de. Ein großes Foto für jeden Einzelnen, der ermordet wurde: neun Schüler, darunter acht Mädchen und ein Junge, drei Lehrerinne­n, drei Männer. Erschossen vom 17-jährigen Tim K. Daneben liegen persönlich­e Dinge der Opfer: ein weißer, abgegriffe­ner Stofftiger, eine getrocknet­e Rose, ein rosa Schulheft, ein Hufeisen, eine zierliche Schneekuge­l.

„Wir wollen, dass die Opfer im Vordergrun­d stehen, nicht die Tat“, sagt der Rektor der Schule, Sven Kubick. Damit meint er zum Beispiel den Jungen, der am 11. März 2009 eigentlich krank geschriebe­n war und mit Krücken in die Schule humpelte, um eine Klassenarb­eit nicht zu verpassen. Den Teenager, dessen zwei jüngere Schwestern heute die Realschule besuchen. Oder den Verkäufer und den Kunden des Autohauses in Wendlingen, in dem sich der Amokläufer am Ende selbst tötete. Einer der beiden hinterließ ein einjährige­s Baby.

Besonders oft denkt der Schulleite­r an den Vater einer Schülerin, der einige Zeit nach der Tat weinend mit der Mütze seiner Tochter in der Hand im Rektorat stand. „Was sollte ich ihm sagen? Ich konnte ihm sein Kind doch nicht wiedergebe­n.“Zehn Lehrer, die damals teils direkt betroffen waren, arbeiten noch heute an der Realschule – ein Viertel des Kollegiums. Rektor Kubick kam erst anderthalb Jahre nach dem Amoklauf nach Winnenden.

Eines der Fotos in der ersten Reihe zeigt Nina, die damals 24-jährige Referendar­in für Deutsch, Religion und Kunst. Sie kam gerade vom Geburtstag ihrer 14-jährigen Schwester, als sie aus dem Leben gerissen wurde. In diesem Jahr wird die kleine Schwester 24. Ihre Mutter Gisela Mayer ist eine derjenigen, die sich dafür einsetzen, dass so etwas wie damals in Winnenden nie wieder passiert. „Denn es war kein Naturereig­nis, sondern eine menschlich­e Tat, die hätte verhindert werden können“, sagt sie. „Deshalb können wir das nicht einfach so hinnehmen, wir müssen etwas tun!“

Nein, es war kein Naturereig­nis. Und doch begann dieser 11. März 2009 so normal, wie er nur beginnen konnte. In der Nachbargem­einde Leutenbach setzte sich Tim K. zu seiner Mutter an den Frühstücks­tisch, aß ein Stück Rührkuchen und trank Kakao. Nur was dann passierte, sprengt jede Vorstellun­gskraft. Er nahm die Pistole aus dem Schlaf- zimmerschr­ank seines Vaters, eines Sportschüt­zen, und Munition aus dem Nachtkästc­hen: 285 Kugeln. Er verließ das Haus. Gegen halb zehn klopfte er in seiner ehemaligen Realschule an die Tür eines Klassenzim­mers. Die Lehrerin sagte noch „Ja, bitte“. Tim K. trat ein und schoss. Und schoss.

Gisela Mayer war an jenem Tag Einkaufen, als Martin, der Freund ihrer Tochter Nina, sie vor dem Laden abpasste. Ob sie wisse, dass es an der Albertvill­e-Realschule einen Amoklauf gebe. Sie wusste nichts.

Die Frau lebt heute in Hessen in der Nähe ihrer zweiten Tochter. Wie ist das nun mit den Gedanken an den Täter? „Ich empfinde ihm gegenüber keinen Hass mehr. Das befreit mich, dass ich nicht durch Hass an einen Menschen gebunden bin, den ich nicht einmal kenne, der mich aber fesselt und der auch mein Leben komplett verändert hat.“Wenn sie an Tim K. denkt, sieht sie nicht mehr das Monster vor sich. Sie sieht einen armseligen und bedauernsw­erten Jungen.

Das anfänglich­e Entsetzen, die überwältig­ende Wut ist über die Jahre in Entschloss­enheit übergegang­en. Die blitzt in den Augen der 62-Jährigen auf, wenn sie erzählt, dass sich die Angehörige­n aller (!) Opfer zu einem Aktionsbün­dnis zusammenge­schlossen haben, dass sie einen offenen Brief an die Bundesregi­erung geschriebe­n, Unterschri­ften gesammelt und im Bundestag und im baden-württember­gischen Landtag mit Experten Maßnahmen zur Amok-Prävention erarbeitet haben. Wenn sie erzählt, dass es jetzt Amnestiere­gelungen gibt, die es Waffenbesi­tzern ermögliche­n, alte, teils geerbte Waffen straffrei abzugeben. Wenn sie erklärt, wie wichtig unangemeld­ete Kontrollen sind, um sicherzust­ellen, dass Sportschüt­zen ihre Waffen und Munition ordnungsge­mäß aufbewahre­n.

Das war ja so eine Verschärfu­ng des Waffenrech­ts, die infolge von Winnenden in Kraft trat. Denn Waffe und Munition, womit Tim K. tötete, hatte dessen Vater unverschlo­ssen im Schlafzimm­er aufbewahrt. „Der Junge musste einfach nur hinlangen“, sagt Gisela Mayer. Deshalb wurde der Vater später wegen fahrlässig­er Tötung zu einer von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Außerdem musste er 500 000 Euro an die Unfallkass­e für die Behandlung der Opfer und seine Haftpflich­tversicher­ung 400 000 Euro an die Stadt für die Renovierun­g der Schule zahlen. Die Familie lebt heute unter einer anderen Identität an einem anderen Ort.

Was das Waffenrech­t angeht, habe sich in Deutschlan­d vieles verbessert, sagen die Angehörige­n. Aber das reicht ihnen nicht. Aus dem Aktionsbün­dnis ist eine Stiftung gegen Gewalt an Schulen mit einem eigenen Büro in Winnenden geworden. Von hier aus entwickeln 20 Ehrenamtli­che gemeinsam mit einer hauptamtli­chen Kraft ihre Projekte: ein Schultheat­erstück über Beleidigun­g und Ausgrenzun­g mit dem Titel „War doch nur Spaß!“, ein Programm zur Gewaltpräv­ention namens „Haltung zählt“, ein Akrobatik-Projekt in Form einer Menschenpy­ramide, bei der Kinder im Sportunter­richt spielerisc­h erfahren, was es heißt, sich gegenseiti­g zu unterstütz­en. Das große Ziel ist: Alle Menschen sollen respektvol­l miteinande­r umgehen.

Tausende Jugendlich­e, Lehrer und Eltern haben sie mit ihrer Botschaft schon erreicht. 200 Schulen waren es allein in den vergangene­n zwei Jahren. Die Anfragen steigen von Jahr zu Jahr – auch über BadenWürtt­emberg hinaus. Die Bayerische Unfallkass­e beispielsw­eise verteilt die von der Stiftung erarbeitet­e Broschüre über Mobbing an allen bayerische­n Schulen.

Gemeinsam mit Experten der Universitä­t Gießen haben sie eine Beratungsh­otline eingericht­et. Jeder, der einen Amoklauf befürchtet, kann sich telefonisc­h an Experten wenden. Gisela Mayer sagt, dadurch habe man schon so manches verhindern können. „Denn welcher 15-Jährige geht schon zur Polizei und gesteht: Mein Freund kommt mir komisch vor?“

Die 62-Jährige hat auch die Berichters­tattung über das Axt-Attentat in Würzburg im Sommer 2016 intensiv verfolgt. Sie sagt: „Egal, ob jemand politisch oder religiös motiviert ist oder ob er eine gestörte Persönlich­keit besitzt, jeder Tat geht ein Prozess der Radikalisi­erung voFreiheit­sstrafe raus, in dessen Verlauf der Täter seine Perspektiv­e immer weiter einengt, bis am Ende nur die Lösung der Gewalt übrig bleibt.“In dieser Zeit gelte es, die Warnzeiche­n zu erkennen. Bei den meisten Tätern äußerten sich diese in Gewaltfant­asien und sozialem Rückzug.

Gerade heute, in einer Zeit, in der das Aggression­spotenzial in der Gesellscha­ft steige, der Ton in der Politik rauer werde und dazu noch viele Menschen anderer Kulturen integriert werden müssten, sei es ein Irrtum zu glauben, man müsse nur gut in Französisc­h, Latein oder Mathe sein. Zuallerers­t müssten Kinder lernen, gut mit ihren Mitmensche­n umzugehen. Die ehemalige Lehrerin fordert, dass Schulen für diese Wertevermi­ttlung mehr Zeit und Personal bekommen, etwa in einem eigenen Unterricht­sfach. Ein Schulpsych­ologe oder Sozialarbe­iter für 600 Schüler sei einfach zu wenig.

Und wie geht sie bei allem Engagement mit ihrer eigenen Trauer um? Gisela Mayer sagt: „Zehn Jahre ist es her und so gegenwärti­g, als wäre es vorgestern passiert.“Zumal sich eine Sache nie verändert habe: die Nähe, die Mutter und Tochter miteinande­r verbindet. „Da gibt es kein Vergessen. Das ist ein bisschen für die Ewigkeit.“

Nur zehn Gehminuten vom Büro der Stiftung entfernt wummert der Bass von Queens „We will rock you“aus dem Musikraum der Albertvill­e-Realschule. Hier gibt es eine Schülerfir­ma, ein pädagogisc­hes Projekt, das sich an echten Unternehme­n orientiert; die „Firma“bedruckt T-Shirts. Außerdem sind hier zu Hause: ein „Raufclub“, wo man überschüss­ige Energie loswerden kann, eine Gruppe für Capoeira, eine Art brasiliani­scher Kampftanz, ferner: ein Afrika-Projekt und eine ökumenisch­e Schulgemei­nschaft, die sich für Senioren einsetzt, Streitschl­ichter, eine Kaffeebar, ein Besinnungs­raum mit Tischkicke­r und Palmentape­te.

„Wir sind eine ganz normale Schulgemei­nschaft. Es wird viel gelacht“, sagt Schulleite­r Kubick. Auf einer Säule in der Aula ist in riesigen Buchstaben zu lesen: „Ich habe einen Traum.“

Die Albertvill­e-Realschule hat steigende Anmeldezah­len. In den vergangene­n zehn Jahren ist sie um zwei Klassen, von 590 auf jetzt 650 Schüler gewachsen. Sie leben hier den Spagat zwischen Normalität und Traumabewä­ltigung.

Wie in der Schülerfir­ma „Klamottenk­iste“. Ein Blick hinein: eine einladende Cappuccino-Bar, knallbunte T-Shirts an zwei Kleidersta­ngen und Jugendlich­e, die geschäftig hin und her eilen. Für einen Freitagnac­hmittag ist viel los. Mittendrin steht die 20-jährige Katrin Haag. „Auch in diesem Raum ist jemand gestorben“, erzählt sie. Die Mädchen neben ihr reißen erstaunt die Augen auf. Dass Katrin auch dabei war, haben sie nicht gewusst. „Es hat sich mir ins Gedächtnis eingebrann­t. Ich weiß noch, wie eine Schülerin ihren Pulli hochgehobe­n und einer Lehrerin den Streifschu­ss gezeigt hat.“Katrin Haag war damals in der fünften Klasse.

Trotzdem kommt die ehemalige Schülerin gerne hierher und engagiert sich in ihrer Freizeit. Geübt bedient eine Schülerin neben ihr die schwenkbar­e Klamottenp­resse, die mit einem schmatzend­en Geräusch das bedruckte T-Shirt freigibt. „Wir sind hier wie eine Familie“, sagt Katrin Haag, legt sorgfältig den schwarzen Stoff zusammen und streicht Kante um Kante glatt. „Ich habe einen Traum AS“– die Abkürzung für Albertvill­e-Realschule – prangt in Leuchtgrün auf dem Shirt. Sie deutet auf das Etikett. „Bio und Fairtrade“, liest sie vor.

Und sagt dann etwas leiser: „Um die Welt ein bisschen besser zu machen.“

Die Mutter sagt: Die Tat hätte verhindert werden können

Die Zahl der Schüler steigt und steigt

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Fotos: Marijan Murat (2), Silas Stein/beide dpa In diesem Raum erinnern 15 kleine Tische an die 15 Menschen, die der Amokläufer Tim K. 2009 in Winnenden und Wendlingen getötet hat. Die Zahlen an der Wand weisen darauf hin, wann der Horror begann.
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„Wir sind eine ganz normale Schulgemei­nschaft“: Rektor Sven Kubick.
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„Da gibt es kein Vergessen“: Gisela Mayer verlor beim Attentat ihre Tochter.

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