Augsburger Allgemeine (Land West)

Was bringt üben für den Ernstfall?

Selbstvers­uch In Meitingen lernen Frauen, sich selbst zu verteidige­n. Grundlage dafür ist die Kampfsport­art Jiu-Jitsu. Doch mit Technik allein ist es nicht getan

- VON FELICITAS LACHMAYR

In Meitingen lernen Frauen, sich im Ernstfall selbst zu verteidige­n. Doch mit der Technik allein ist es nicht getan.

Meitingen Ich liege am Boden. Alina lehnt über mir und presst mich auf die Matte. Mit aller Kraft versuche ich mich aus der Umklammeru­ng zu befreien. „Drück dich an meiner Schulter ab und roll dich auf die Seite“, sagt sie. „So gewinnst du Abstand.“Etwas ungelenk schiebe ich meinen Hintern nach außen. „Und jetzt mit den Füßen an meine Hüfte.“Mit einem kräftigen Schub stemme ich mich gegen sie, mache mich los und krabble rückwärts auf allen vieren davon.

Shrimpen nennt Kampfsport­trainer Michael Schey die Technik, mit der ich soeben Alinas Griff entkommen bin. Die 16 Frauen, die neben mir auf der Matte in der Meitinger Roll’n Flow Academy rangeln, kennen den Trick. Jeden Donnerstag­abend trainieren sie, um sich im Ernstfall verteidige­n zu können.

Grundlage dafür ist das Brasiliani­sche Jiu-Jitsu, kurz BJJ. Dahinter steckt eine Kampfsport­art, die sich auf den Bodenkampf konzentrie­rt. Genau das finden die Trainer Michael Schey und Michael Matzner – beide seit neun Jahren Jiu-Jitsu-Kämpfer – in der Selbstvert­eidigung für Frauen wichtig. „Als schwächere Person ist es schwierig, im Stand zu bleiben“, sagt Schey. „Man braucht auch eine Antwort, wenn man am Boden liegt.“

Die sollen Frauen im Selbstvert­eidigungsk­urs bekommen. Von effektiven Tricks über Befreiungs­techniken bis hin zum Würgegriff mit den Beinen ist alles dabei. Nur Schläge und Tritte sind im Jiu-Jitsu nicht erlaubt. Ein wichtiger Grundsatz der beiden Trainer: weniger Theorie, mehr Praxis. Das komme in anderen Selbstvert­eidigungsk­ursen oft zu kurz, findet Schey. Schon rollt er sich mit Matzner über die Matte und zeigt den nächsten Trick. „Wenn ihr wie Käfer auf dem Rücken liegt, seid ihr wehrlos“, sagt Schey. „Versucht euch Raum zu verschaffe­n und eure Position zu verbessern.“

Gar nicht so leicht, denke ich, als Alina meine Schulter auf die Matte presst. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal gerangelt habe. Vermutlich im geschwiste­rlichen Kampf um die Fernbedien­ung vor 20 Jahren. Es fühlt sich etwas befremdlic­h an – der Körperkont­akt, die Bewegungen, das Ziehen, Zerren und AmBoden-Robben.

Der Rollenwech­sel macht es nicht einfacher. Als Angreiferi­n bin ich machtlos. „Ich will dir nicht wehtun“, rufe ich Alina zu. Im Ernstfall sähe das wohl anders aus. Nach zwei Sekunden hat sich Alina aus meiner Umklammeru­ng herausgesc­hlängelt. Sie weiß, was sie tut. Im Gegensatz zu mir. Für mich sind die Übungen ungewohnt. Im Kreis laufen, rückwärts robben, aus dem Stand hochspring­en – schon beim Aufwärmen rinnt mir der Schweiß von der Stirn. Das dreiminüti­ge Gerangel mit Alina gibt mir den Rest. „Wer sich verteidige­n will, muss körperlich fit sein“, sagt Schrey.

Was habe ich auch anderes erwartet im Selbstvert­eidigungsk­urs? Ausgefalle­ne Schlagtech­niken ohne

Im Selbstvert­eidigungsk­urs werden Ängste abgebaut

Körpereins­atz? Mit Brille und Turnschuhe­n bewaffnet wollte ich den Kampf antreten. „Die lässt du besser hier“, sagt mir eine Kursteilne­hmerin in der Umkleide. Schnell ist mir klar, warum: zu gefährlich, keinen festen Stand auf der Matte. Aber den brauche ich, um mich im Stehen zu verteidige­n.

Alina packt mich am Handgelenk. „Die Schwachste­lle des Angreifers liegt zwischen Daumen und Zeigefinge­r“, erklärt Trainer Schey. Nicht ziehen, sondern den eigenen Arm nach hinten wegdrücken, lautet der Trick. Und schon habe ich mich mit einem schnellen Ruck befreit. Ob das im Ernstfall auch so einfach wäre? „Wer vorbereite­t sein will, muss oft und lange trainieren“, sagt Matzner. „Nur dann laufen die Bewegungen automatisc­h ab.“

Laura ist seit vier Monaten dabei. „Man bekommt ein besseres Körpergefü­hl“, sagt sie. Auch die Grundtechn­iken der Selbstvert­eidigung haben sie weitergebr­acht. „Ich fühle mich draußen schon etwas sicherer“, sagt sie. In einem sind sich die 16 Frauen einig: Der Kurs baut Ängste ab und stärkt das Selbstbewu­sstsein. „Das macht einen schon weniger zum Opfer“, sagt Alina, Schwester von Trainer Michael Matzner und seit sechs Jahren JiuJitsu-Kämpferin.

Das ist im Training spürbar: lockere Stimmung, offener Umgang, Abklatsche­n nach jedem Gerangel. Hier treffen sich selbstbewu­sste Frauen, die sich zu wehren wissen wollen. „Das gibt einen Muskelkate­r morgen“, warnt mich eine von ihnen im Gehen. Sie sollte recht behalten. Es zwickt und zwackt, auf meiner rechten Schulter prangt eine Schramme vom vielen Shrimpen. Aber sicherer fühle ich mich nach der einen Stunde noch lange nicht.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Im Selbstvert­eidigungsk­urs in der Meitinger Kampfsport­schule Roll’n Flow lernen Frauen Techniken, um sich im Ernstfall verteidige­n zu können. Wie schwierig es ist, sich aus einer Umklammeru­ng zu befreien, hat unsere Redakteuri­n beim Training am eigenen Leib erfahren.
Foto: Marcus Merk Im Selbstvert­eidigungsk­urs in der Meitinger Kampfsport­schule Roll’n Flow lernen Frauen Techniken, um sich im Ernstfall verteidige­n zu können. Wie schwierig es ist, sich aus einer Umklammeru­ng zu befreien, hat unsere Redakteuri­n beim Training am eigenen Leib erfahren.

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