Augsburger Allgemeine (Land West)

Österreich stellt sich neu auf

Politik Ein Video, ein Rücktritt und ein Kanzler, der ins Risiko geht: Nachdem die Koalition aus Konservati­ven und Freiheitli­chen nicht einmal zwei Jahre gehalten hat, fackelt Sebastian Kurz nicht lange. Steckt in dieser Krise nicht auch eine Chance für i

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT UND RUDI WAIS

Wien Der Lärm der Trillerpfe­ifen ist ohrenbetäu­bend. „Neuwahlen. Neuwahlen“, skandieren die Demonstran­ten auf dem Ballhauspl­atz. An diesem Samstag strahlt die Sonne vom Himmel, der in Wien so typische Puszta-Wind bläst von Westen. Familien mit Kindern und Hunden hat es in den Volksgarte­n gezogen. Die 5000 Menschen jedoch, die vor dem Kanzleramt unter dem Fenster von Sebastian Kurz stehen, treibt etwas anderes an. Sie wollen das Ende der türkisblau­en Koalition miterleben.

Jubel brandet auf, als Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache von der Freiheitli­chen Partei FPÖ die Konsequenz­en aus der Video-Affäre zieht, seinen Rücktritt erklärt und seine Frau Philippa mit Tränen in den Augen um Verzeihung für sein „alkoholbed­ingtes Macho-Gehabe“bittet. Während des sechsstünd­igen Essens mit der angebliche­n Nichte eines russischen Oligarchen im Juli 2017 auf Ibiza habe er sich „dumm“und „prahlerisc­h wie ein Teenager“verhalten. Der Film, der Österreich seit Freitagabe­nd so erregt, zeigt Strache, wie er einer angeblich schwerreic­hen Investorin als Gegenleist­ung für ihre Unterstütz­ung im Wahlkampf unter anderem lukrative Staatsauft­räge verspricht: „Dann können wir über alles reden.“

Als Kurz am Samstagabe­nd dann das Ende der Koalition verkündet, hat er lange mit sich gerungen. „Genug ist genug“, sagt der 32-Jährige. Gefasst, prägnant, sortiert listet er erst eine Reihe der Erfolge der Koalition auf: Steuerrefo­rm, Schuldenab­bau, Kampf gegen illegale Migration. Zugleich gibt er allerdings auch zu erkennen, dass ihn die FPÖ immer wieder zutiefst geärgert und irritiert habe. Der Kanzler erinnert an antisemiti­sche Vorfälle im Umfeld der Freiheitli­chen und an die Nähe der Partei zu den rechtsextr­emen Identitäre­n: „Es gab viele Situatione­n, in denen es mir schwergefa­llen ist, das alles runterzusc­hlucken.“

Nach Straches Rücktritt versucht Kurz zunächst noch, die taumelnde Koalition zu retten, indem er auf eine Ablösung von Innenminis­ter Herbert Kickl drängt, der in der FPÖ als einer der Scharfmach­er gilt. Zu diesem Opfer aber sind die Freiheitli­chen nicht bereit, die unter Strache lange und beharrlich auf diese Regierungs­beteiligun­g hingearbei­tet haben. Zudem ist Kickl beliebt an der Basis. Seine Ablösung hätte womöglich zur Spaltung der Partei führen können. Also entscheide­t sich Kurz für Neuwahlen. Oder, wie er es formuliert: „Die FPÖ kann es nicht.“Er habe nicht den Eindruck, dass die Partei zu grundlegen­den Veränderun­gen bereit sei. „Die Neuwahlen waren kein Wunsch, sie waren eine Notwendigk­eit.“

Eigentlich will Wien an diesem Wochenende den 150. Geburtstag der Staatsoper groß feiern. Nun aber dominiert ein anderes Thema die Hauptstadt und das Land. Nach 18 Monaten hat Sebastian Kurz ein von Anfang an umstritten­es Projekt beendet. Er hatte den Ehrgeiz, die rechtspopu­listische, eingeschwo­rene Opposition­spartei FPÖ in der Koalition zu zähmen. Nun muss er einsehen, dass er die berühmte Latte zu hoch gelegt hat. In einigen bisher kaum bekannten Teilen des VideoMitsc­hnittes unterstell­t Strache dem Bundeskanz­ler gar „Sexorgien“in „Drogenhint­erzimmern“.

Strache selbst sieht sich als Opfer einer Intrige und will mit den unbekannte­n Drahtziehe­rn abrechnen. Die FPÖ lag am Boden, als er die Partei 2005 übernahm. Mit einem Anti-Ausländer-Kurs und dem Image eines volksnahen Politikers gewann die Partei neue Wähler. Im Dezember 2017 dann ging sein Traum in Erfüllung: Der gelernte Zahntechni­ker wurde im Kabinett von Sebastian Kurz Vizekanzle­r und Sportminis­ter. Er fühlte sich sichtbar wohl in seiner Rolle, gab sich staatstrag­end und als braver Familienme­nsch. Zur Geburt seines Sohnes im Januar nahm sich der 49-Jährige sogar medienwirk­sam einen Monat frei.

Auch die immer wiederkehr­enden Vorwürfe aus der Vergangenh­eit – etwa eine zeitweilig­e Nähe zu Neonazi-Gruppen – stoppten Straches Weg nach oben nicht. Nun allerdings zeigt das Video aus Ibiza wieder einen ganz anderen Strache. Welche Rolle der deutsche Satiriker Jan Böhmermann in diesem bizarren Polit-Drama spielt, ist auch drei Tage danach noch unklar bis dubios. Wie sein Manager bestätigt hat, kennt der 38-Jährige das heikle Video bereits seit Wochen. Ja, mehr noch: Anfang April, bei der Verleihung eines österreich­ischen Fernsehpre­ises, sagte er in einer Videobotsc­haft Sätze, die sich im Nachhinein lesen, als habe er es mitgedreht: Den Preis könne er nicht persönlich abholen, frotzelte Böhmermann da, weil er „gerade ziemlich zugekokst und Red-Bull-betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsf­reunden in einer russischen Oligarchen-Villa auf Ibiza rumhänge“. Er verhandele überdies darüber, wie er die Kronen Zeitung übernehmen könne, dürfe darüber aber nicht reden. In einer am Donnerstag ausgestrah­lten Sendung, also am Tag vor Bekanntwer­den des Strache-Skandals, legte er nach: „Kann sein, dass morgen Österreich brennt.“

Die Inszenieru­ng einer Falle, wie sie Strache im Stile einer Stasi-Aktion gestellt wurde, trauen Böhmermann in Österreich allerdings nur wenige zu. Am Sonntag machen Spekulatio­nen die Runde, ein Künstlerko­llektiv mit dem schrägen Namen „Zentrum für politische Schönheit“könnte hinter der Aktion stecken. Die Provokateu­re aus Berlin haben, unter anderem, schon neben dem Wohnhaus des Thüringer AfD-Funktionär­s Björn Höcke eine Art Ableger des HolocaustM­ahnmals aufgebaut und in der Schweiz dazu aufgerufen, den konservati­ven Publiziste­n Roger Klöppel zu töten. Ein Sprecher der Gruppe allerdings dementiert im Gespräch dem ORF, etwas mit dem Skandal-Video zu tun zu haben.

Auch Tal Silberstei­n, ein früherer Berater der österreich­ischen Sozialdemo­kraten, wird inzwischen als möglicher Urheber ins Spiel gebracht. Das Treffen von Strache, seinem Vertrauten Johann Gudenus und der vermeintli­chen Geldgeberi­n auf Ibiza fand am 24. Juli 2017 statt. Wenige Tage später wurde Silberstei­n verhaftet. Er hatte im letzten Wahlkampf mit einer Schmutzkam­pagne gegen Kurz versucht, die Chancen des damaligen Kanzlers Christian Kern zu verbessern. Unter anderem hatte Silberstei­n mit einer Internetse­ite mit dem irreführen­den Namen „Wir für Sebastian Kurz“den Eindruck zu erwecken versucht, der Kandidat tummle sich am Rande des rechten Spektrums.

Strache selbst glaubt, ein Opfer von Geheimdien­sten zu sein, und spricht von einem „gezielten politische­n Attentat“. Vertreter dieser Theorie argumentie­ren, dass auf Ibiza Profis am Werk gewesen sein müssen. Mit sechs Kameras und Schauspiel­ern zu arbeiten sei aufwendig und teuer. Westliche Geheimdien­ste hätten das Ziel haben können, mit der Aktion die Verbindung­en der Freiheitli­chen zu Russland zu beschädige­n. Schließlic­h war Straches Begleiter Johann Gudenus, der inzwischen ebenfalls zurückgetr­etene Fraktionsv­orsitzende im Parlament. Als Teenager war er Straches „Leibfuchs“in der Schülerver­bindung „Vandalia“, er stammt aus einer deutschnat­ionalen Adelsfamil­ie, hat in Russland studiert und pflegt Kontakte zu Putins Partei „Einiges Russland“. Und er fiel als offenbar Erster auf die Schauspiel­erin herein.

Für westliche Geheimdien­ste, lautet diese Theorie, sei die FPÖ zum Sicherheit­srisiko geworden, weil sie über das Innenminis­terium in Wien Zugriff auf internatio­nale vertraulic­he Informatio­nen hat. Deshalb hätte ein westlicher Dienst versucht, Strache und Gudenus zu kompromitt­ieren. Ein Mann vom Fach nennt diesen Ansatz im Gespräch mit unserer Redaktion aber „lächerlich“. Warum sei das Video gerade jetzt veröffentl­icht worden? Habe der Urheber das Ende der seit Wochen heftig streitende­n Koalition nahen sehen und befürchtet, das Material könnte bald wertlos werden? Geheimdien­ste gingen jedenfalls anders vor, auch wenn sie gelegentli­ch Lockvögel nutzten.

Wie auch immer: Buchstäbli­ch über Nacht ist Österreich in eine veritable Regierungs­krise geschlitte­rt, wenn nicht gar in eine gefühlte Staatskris­e. Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen jedenfalls sieht in dem von Spiegel und Süddeutsch­er Zeitung veröffentl­ichten Video ein „verstörend­es Sittenbild“. Er fürchtet um nicht weniger den Ruf des Landes. Das Staatsober­haupt, dem ein guter Draht zu Kurz nachgesagt wird, drängte dem Vernehmen nach sofort auf Neuwahlen. Nur wenige Minuten nach Kurz tritt auch er am Samstagabe­nd vor die Kameras. „Es sind beschämend­e Bilder und niemand soll sich für Österreich schämen müssen“, sagt Van der Bellen. „So sind wir nicht. So ist Österreich einfach nicht.“

Doch so umstritten die Rolle der FPÖ in der Regierung ist, so gut ist es Österreich unter der türkisblau­en Koalition zuletzt gegangen. Die Renten sind höher als in Deutschlan­d, der Staatshaus­halt ist ausgeglich­en und anders als in Deutschlan­d lässt Österreich seine Bürger am Aufschwung teilhaben. Um acht Milliarden Euro hat die Regierung gerade erst die Steuern für Bürger und Unternehme­n gesenkt – hochgerech­net auf die Einwohnerz­ahl würde das in Deutschlan­d einer Entlastung von mehr als 70 Milliarden Euro entspreche­n.

Die Ausgangsla­ge für den beginnende­n Wahlkampf ist also durchaus gut für Kurz. Meinungsfo­rscher geben ihm beste Noten für seine Entscheidu­ng, alles auf eine Karte zu setzen und die Koalition aufzukündi­gen. Die meisten Demoskopen gehen davon aus, dass die ÖVP profitiert und bei der für Anfang September geplanten Neuwahl kräftig zulegt und im Idealfall mit einem kleineren und pflegeleic­hteren Koalitions­partner regieren kann als bisher.

Nur mit wem soll sich Kurz verbünden? Zu einer absoluten Mehrheit wird es kaum reichen für die

Van der Bellen sagt: So ist Österreich nicht

Wird Ibiza womöglich zum zweiten Knittelfel­d?

Konservati­ven, die Begeisteru­ng der Österreich­er für eine Neuauflage der Großen Koalition mit den Sozialdemo­kraten ist überschaub­ar und das Angebot an anderen potenziell­en Koalitions­partnern aus seiner Sicht nicht sonderlich attraktiv.

Wird Ibiza also womöglich gar zu einem zweiten Knittelfel­d für die österreich­ische Politik?

Knittelfel­d – das steht für die erste Koalition aus ÖVP und FPÖ, die 2002 in der steirische­n Kleinstadt an einer Art Palastrevo­lution bei den Freiheitli­chen gescheiter­t ist. Damals traten erst mehrere ihrer Minister zurück, ehe Bundeskanz­ler Wolfgang Schüssel die Koalition schließlic­h beendete und Neuwahlen ausrief. Anschließe­nd regierte er zwar sofort wieder mit der FPÖ – allerdings mit einer von 27 auf zehn Prozent geschrumpf­ten und nicht mehr ganz so rebellisch­en FPÖ. Diesmal allerdings ist die Lage um einiges verzwickte­r: Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Freiheitli­chen nicht geläutert aus der Video-Affäre gehen, sondern Strache insgeheim sein Comeback vorbereite­t. Wenn schon nicht mehr Vizekanzle­r, dann wolle er wenigstens Bürgermeis­ter von Wien werden, heißt es.

Woher das brisante Video mit ihm in der Hauptrolle stammt, ist noch immer offen – und wird womöglich nie geklärt. Nach Darstellun­g der Süddeutsch­en Zeitung wurde das Material der Redaktion in einem verlassene­n Hotel übergeben. Österreich­ische Kollegen bekamen den Film übrigens nicht offeriert. Die Entscheidu­ng über eine Veröffentl­ichung wäre womöglich anders ausgefalle­n. Denn in Österreich nehmen Journalist­en traditione­ll Rücksicht auf die Privatsphä­re von Politikern. Hier heißt es häufig: Jeder weiß alles, aber niemand schreibt darüber.

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Foto: Roland Schlager, dpa Wien, Ballhauspl­atz, Samstagabe­nd: Gerade hat Bundeskanz­ler Sebastian Kurz das Ende seiner Koalition mit der FPÖ bekannt gegeben. Anfang September wählt Österreich deshalb neu.
 ?? Foto: Hanz Punz, dpa ?? Auf dem Weg zum Rücktritt: FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache am Samstag in Wien.
Foto: Hanz Punz, dpa Auf dem Weg zum Rücktritt: FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache am Samstag in Wien.
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Foto: Alex Halada, afp „Genug ist genug“: Sebastian Kurz nannte Neuwahlen am Wochenende eine „Notwendigk­eit“.

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