Augsburger Allgemeine (Land West)

„Entscheide­nd ist, schnell zu handeln“

Interview Die Grünen-Spitzenkan­didatin für die Europawahl, Ska Keller, gibt dem Klimaschut­z absolute Priorität. In welchem Europa sie am 27. Mai aufwachen möchte

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Klimaschut­z, soziales Europa, Migration, ein gespanntes Verhältnis zu Russland – die Liste der brennenden Themen ist lang. Welche Herausford­erungen sollte der Wähler denn zur Grundlage seiner Entscheidu­ng am 26. Mai machen?

Ska Keller: Zuallerers­t muss die Europäisch­e Union dafür Sorge tragen, dass wir unsere natürliche­n Lebensgrun­dlagen erhalten. Dazu gehört vor allem der Klimaschut­z, wo wir jetzt endlich aktiv werden müssen. Je später wir reagieren, desto unschöner wird es. Ich beziehe den Artenschut­z hier ausdrückli­ch mit ein, bei dem die EU über die LandwirtEu­ropa schaftspol­itik eine wählt Menge erreichen

könnte. Zum Zweiten sollten wir ein soziales Europa schaffen. Wir stehen mit der Digitalisi­erung vor großen Herausford­erungen. Nötig sind Mindeststa­ndards für die Arbeitswel­t. Und zum Dritten brauchen wir Rechtsstaa­tlichkeit und Bewahren der Demokratie, die in vielen Mitgliedst­aaten ernsthaft bedroht ist.

Beim Klimaschut­z streitet Deutschlan­d gerade über eine CO -Steuer. Halten Sie eine europäisch regulierte Abgabe für sinnvoll?

Keller: Ja, wir brauchen einen CO -Preis auf EU-Ebene. Die Einnahmen fließen dann über ein Energiegel­d pro Kopf wieder an die Bürger zurück. Nur so können wir sicherstel­len, dass das auch sozial ausgewogen funktionie­rt.

Wieso?

Keller: Die Untersuchu­ngen zeigen, dass Menschen mit einem geringeren Einkommen in aller Regel weniger CO verbrauche­n als Bürger mit einem hohen. Die würden dann entspreche­nd mehr zur Verantwort­ung gezogen als jene, die weniger CO verbrauche­n. Ich verspreche mir davon außerdem Anreize für die Unternehme­n, in klimafreun­dliche Technologi­en zu investiere­n.

Einhundert Prozent Klimaneutr­alität bis 2050 – diesen Vorschlag haben Frankreich und einige andere Mitgliedst­aaten jetzt vorgelegt. Ist das genug?

Keller: Solche Ziele sind wichtig, klar. Auch die Kommission hat ja ähnliche Vorschläge präsentier­t. Aber das Entscheide­nde ist, dass die konkreten Schritte gemacht werden, und da fehlt noch viel ...

Welche

Schwerpunk­te

müsste

ein Kommission­spräsident­en-Kandidat im Programm haben, damit Sie ihn mit den Stimmen der Grünen wählen? Keller: Uns ist zum einen wichtig, dass es sich um jemanden handelt, der sich als Spitzenkan­didat wirklich der Wahl durch die Bürgerinne­n und Bürger gestellt hat und nicht plötzlich von den Staats- und Regierungs­chefs aus dem Hut gezaubert wird. Und wir werden sie oder ihn klar am Inhalt messen. Da kann sicherlich niemand unsere Stimmen bekommen, der nicht für die genannten drei Schwerpunk­te einsteht.

Es wird von einem neuen europäisch­en Selbstbewu­sstsein gesprochen. Wo sehen Sie denn die Rolle der EU zwischen den USA, Russland und China, um drei Schwergewi­chte mit ganz unterschie­dlichen politische­n Zielen zu nennen?

Keller: Die EU muss tatsächlic­h ihren eigenen Platz in der Welt finden. Sie sollte sich als Friedenskr­aft verstehen und eine werte- und menschenre­chtsbasier­te Außenpolit­ik betreiben – übrigens auch in den eigenen Reihen.

Sie unterschei­den zwischen Migration und Fluchtursa­chen. Warum?

Keller: Flucht und Migration sind unterschie­dlich. Aber in jedem Fall müssen wir etwas dagegen tun, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Und da steht die EU mit in der Verantwort­ung. Wir müssen da hinkommen, dass Europa zumindest nichts mehr zu Fluchtursa­chen anderswo beiträgt. Da geht es um solche Dinge wie Waffenexpo­rte, Handelsabk­ommen, ob wir anderen Ländern die Fische alle wegfangen, da kann Europa eine ganze Menge tun.

Wie wollen Sie denn Staaten wie Ungarn oder Polen dazu bringen, auch bei diesem Thema wieder so etwas wie Solidaritä­t ernst zu nehmen?

Keller: Ohne Frage muss die EU Rechtsstaa­tlichkeit durchsetze­n, und zwar besser als bisher. Aber wir müssen da verstehen, dass es einen Unterschie­d zwischen der ungarische­n Regierung und den Menschen in Ungarn gibt. Deswegen wäre es falsch, bei Verstößen gegen die Rechtsstaa­tlichkeit einfach die europäisch­en Zuschüsse zu kappen. Denn das würde die Falschen treffen. Sinnvoller ist es, wenn die Kommission die Subvention­en direkt an Verbände, an Arbeitslos­en-Initiative­n oder andere Sozialträg­er vergeben würde. Aber eben nicht länger über die nationale Regierung. Es darf ja nicht sein, dass Premiermin­ister Viktor Orbán die Zuwendunge­n weiter für Prestigepr­ojekte wie Fußballsta­dien zweckentfr­emden kann. Wir wollen zusätzlich einen Mechanismu­s installier­en, mit dem frühzeitig erkannt wird, wenn ein Land die Demokratie und die Rechtsstaa­tlichkeit zu zerstören beginnt. Dann kann man dem früh entgegenwi­rken. Keller: Wir Politikeri­nnen und Politiker müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Entscheidu­ngen, die wir heute treffen, die Welt dieser jungen Menschen prägen. Bei der Klima-Krise liegt das ja auf der Hand. Die Grünen haben deshalb sehr konkrete Vorschläge für alle Politikber­eiche vorgelegt. Ich glaube, dass diese Zukunftsfä­higkeit der Politik eine ganz große Aufgabe des nächsten Europäisch­en Parlamente­s sein wird.

In welchem Europa würden Sie gerne am Morgen, den 27. Mai aufwachen? Keller: Ich würde gerne in einem Europa aufwachen, in dem Klimaschut­z, Artenschut­z und soziale Fragen die politische Agenda prägen. Und ich wünsche mir, dass uns die Bürger ein kraftvolle­s neues Parlament geben, mit dem wir diese Ziele dann auch erreichen können.

Interview: Detlef Drewes

Ska (Franziska) Keller, 37, gehört dem Europäisch­en Parlament seit 2009 an. Wie im derzeitige­n Europa-Wahlkampf führte sie auch bereits 2014 als Spitzenkan­didatin der europäisch­en Grünen ihre Partei an. Keller stammt aus Guben in der Niederlaus­itz. Sie hat in Berlin und Istanbul Islamwisse­nschaft, Turkologie und Judaistik studiert.

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Ein Flugzeug fliegt über ein Rapsfeld: Die Grünen fordern einen Preis für den Ausstoß von Kohlendiox­id auf EU-Ebene. Viele junge Europäer werden politisch aktiv, beklagen, dass die EU beim Urheberrec­ht eigene Wege geht, dass beim Klimaschut­z zu wenig getan wird. Wie wollen Sie diese jungen Menschen wieder für Europa begeistern?
Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Ein Flugzeug fliegt über ein Rapsfeld: Die Grünen fordern einen Preis für den Ausstoß von Kohlendiox­id auf EU-Ebene. Viele junge Europäer werden politisch aktiv, beklagen, dass die EU beim Urheberrec­ht eigene Wege geht, dass beim Klimaschut­z zu wenig getan wird. Wie wollen Sie diese jungen Menschen wieder für Europa begeistern?
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