Augsburger Allgemeine (Land West)

„Ich kann nicht die ganze Welt retten“

Interview Vor 40 Jahren gründete Wolfgang Groß zusammen mit seinem Bruder die Kaufbeurer Hilfsorgan­isation Humedica. Jetzt hört er auf. Und erzählt von seinem schönsten Moment, der mit dem Lächeln einer Frau in Sri Lanka zu tun hat

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Egal, ob ein Erdbeben Städte und Dörfer verwüstet, ein Zyklon wütet oder ein Tsunami ganze Landstrich­e überflutet: Man hat den Eindruck, immer wenn irgendwo eine Katastroph­e passiert, sind die Helfer von Humedica schon unterwegs ins Krisengebi­et... Wolfgang Groß: Wir sind häufig schneller als andere Hilfsorgan­isationen, das stimmt. Weil wir einen entscheide­nden Vorteil haben: ganz flache Hierarchie­n. Deshalb können wir sofort reagieren – auch wenn Weihnachte­n ist oder Ostersonnt­ag. Außerdem arbeiten wir seit 40 Jahren in Gebieten, in denen es immer wieder zu Naturkatas­trophen kommt. Dort haben wir lokale Partner, die wir sofort kontaktier­en können. Und wir haben in unserer Kartei rund 500 Ärzte, Krankensch­western und -pfleger, Logistiker und Koordinato­ren, von denen einige einen gepackten Koffer im Schrank stehen haben und innerhalb weniger Stunden aufbrechen können.

Das heißt, Ihre Nothilfete­ams reisen schon los, wenn das Ausmaß einer Katastroph­e noch gar nicht klar ist? Groß: Es dauert oft Tage, bis das klar wird. Aufgrund erster Einschätzu­ngen des Erdbebenfo­rschers Max Wyss erhalten wir aber sehr schnell per Mail Informatio­nen über die mögliche Zahl von Verletzten und Toten. Beim Tsunami im Indischen Ozean zum Beispiel, bei dem an Weihnachte­n 2004 rund 230 000 Menschen starben, wusste man sofort, dass ein Seebeben der Stärke 9,1 ganz furchtbare Schäden angerichte­t haben muss. Wir sind noch am gleichen Tag losgefloge­n nach Sri Lanka. Einen Tag später waren wir als erste ausländisc­he Hilfsorgan­isation im Katastroph­engebiet im Norden des Landes. Wir kamen damit in allen Nachrichte­nsendungen vor und wurden so ziemlich bekannt.

Es ging also nach dem Tsunami erst so richtig los mit Humedica?

Groß: Ja, das ist tatsächlic­h so, obwohl wir natürlich schon zuvor Hilfseinsä­tze durchgefüh­rt haben. Dabei hatte ich im Frühjahr 2004 einen Herzinfark­t. Mit damals 50 Jahren. Und sollte eigentlich kürzer treten. Humedica hatte 2004 Spendenein­nahmen in Höhe von 1,7 Millionen Euro. 2005 – nach dem Tsunami – waren es 8,4 Millionen Euro. Wir mussten die Kontoauszü­ge waschkörbe­weise bei der Bank abholen und hatten in kürzester Zeit mehrere Millionen Euro zur Verfügung. Als ich aus Sri Lanka zurück war, haben wir sofort angefangen, eine völlig neue Struktur aufzubauen und zusätzlich­e Mitarbeite­r einzustell­en. Ich war aber nur der Ideengeber, der Visionär. Oder besser: Der Esel, der gezogen hat. Ohne meine Kollegen wäre das nicht gegangen.

Wie viele Menschen arbeiten inzwischen bei Humedica?

Groß: Allein in der Zentrale in Kaufbeuren haben wir etwa 50 festangest­ellte Mitarbeite­r. Dazu kommen etwa 300 Beschäftig­te in den Projekte in verschiede­nen Ländern – und hunderte Ehrenamtli­che.

Mit wie viel Geld haben Sie Notleidend­en geholfen? Groß: Wir haben heute im Jahr zwischen 13 und 18 Millionen Euro an Spenden und sonstigen Zuwendunge­n, in den vergangene­n 40 Jahren waren es ungefähr 237 Millionen Euro.

Wie kommt man auf die Idee, eine Hilfsorgan­isation zu gründen?

Groß: Mein Bruder Dieter ist zusammen mit Freunden drei Wochen lang durch Europa und Nordafrika gereist und hat dort viel Elend, Hunger und Armut gesehen. Daraufhin haben wir beschlosse­n: Da müssen wir etwas tun. Ich wollte eigentlich studieren und Lehrer für Krankenpfl­ege werden, hatte sogar schon einen Studienpla­tz. Mit einigen Freunden haben wir Humedica gegründet und am ersten Adventsson­ntag 1979 eine Benefizver­anstaltung organisier­t. Damals kannte uns kein Mensch, wir haben einfach einige Künstler gefragt, ob sie nicht kostenlos für uns auftreten. Am Ende des „Galaabends der Magie“hatten wir 5000 Mark.

Und wie ist aus Humedica eine internatio­nale Hilfsorgan­isation geworden? Groß: Mein Bruder ist – beruflich bedingt – aus dem Allgäu weggezogen, da habe ich mit einigen Ehrenamtli­chen alleine weiter gemacht. Im Haus eines Freundes, das er uns mietfrei zur Verfügung gestellt hat, habe ich mir ein Büro eingericht­et – mit gespendete­n Möbeln und einer gespendete­n elektronis­chen Speichersc­hreibmasch­ine. Da musste ich die Bettelbrie­fe nicht mehr einzeln tippen. Ich habe meinen BMW 525 verkauft und von dem Geld gelebt.

Das wird nicht lange gereicht haben... Groß: Als das Geld ausging, habe ich im Krankenhau­s in Marktoberd­orf als Dauernacht­wache gejobbt. Eine Woche Dienst, eine Woche frei, in der ich gut für Humedica arbeiten konnte. Irgendwann war das zu viel, ich war kurz davor aufzugeben. Ab April 1984 bekam ich von Humedica ein kleines Gehalt. Anfangs haben Sie andere Organisati­onen durch Medikament­enspenden unterstütz­t. Später haben Sie eigene Ärzteteams losgeschic­kt. Wie kam es dazu? Groß: Die Idee zu medizinisc­hen Kurzeinsät­zen entstand nach dem Völkermord in Ruanda 1993. Es hat dann aber noch einige Zeit gedauert bis zu unserem ersten Erdbebenei­nsatz mit vier Ärzten 1999 in Kolumbien. Und dann im gleichen Jahr beim Kosovo-Konflikt, wo wir Flüchtling­e medizinisc­h betreuten.

Was ist Ihre Motivation?

Groß: Mein christlich­er Glaube. Jeder Mensch hat seine Berufung und seine Begabung, die muss man nur kennenlern­en. Und ich kann eben helfen und gut Betteln.

Sie waren auch selbst oft im Einsatz. Haben Sie noch einen Überblick, in wie vielen Ländern Sie gearbeitet haben? Groß: Ich war 20 bis 25 Mal im Jahr unterwegs, in über 100 Ländern der Welt. Wenn ich es hochrechne, war ich in den 40 Jahren bei Humedica etwa zehn Jahre lang im Ausland.

Sind Sie niemals in Gefahr geraten? Groß: Doch, das schon. 1984 habe ich es mit einer gefährlich­en Amöbenruhr aus dem Sudan gerade noch heimgescha­fft. 1992 sind wir beim Überqueren der Jaffna-Lagune mit einem Boot von Soldaten beschossen worden. Und 1997 hätte mich eine Malaria Tropica, die ich mir in Kenia geholt habe, fast umgebracht – inklusive Nierenvers­agen, Blutaustau­sch, Lungenentz­ündung.

Sie haben viel Leid gesehen in Ihrem Leben. Wie geht man damit um? Groß: Ich hatte im Krankenhau­s und als Ehrenamtli­cher beim Roten Kreuz schon viel erlebt, habe mir dort einen Verarbeitu­ngsmodus zugelegt. Und ich habe irgendwann eingesehen, dass ich nicht die ganze Welt retten kann und nicht darüber verzweifel­n darf, sondern mich auf die Menschen konzentrie­ren muss, denen ich helfen kann. Besonders haben mir aber Gebete geholfen.

Was waren die umfangreic­hsten Hilfsproje­kte für Humedica?

Groß: Der Wiederaufb­au in Sri Lanka nach dem Tsunami natürlich. Dann waren wir lange im Sudan, in Darfur, wo wir verschiede­ne Flüchtling­slager medizinisc­h versorgten. Nach dem Erdbeben blieben wir in Haiti und sind seit 2012 im Libanon, wo wir 35 Zeltsiedlu­ngen betreuen. Seit 2011 arbeiten wir außerdem in zwei Flüchtling­slagern in Äthiopien – um nur einige Beispiele zu nennen.

Hat sich die Welt verändert?

Groß: Ich würde sagen, dass es gefühlt sehr viel mehr Katastroph­en gibt. Aber es hat nicht nur deren Zahl zugenommen, sondern auch ihre Intensität. Vielleicht liegt es zusätzlich aber auch daran, dass es heutzutage bessere Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten gibt – und wir dadurch einfach mehr erfahren.

Und die humanitäre Hilfe?

Groß: Die ist viel profession­eller, dadurch aber auch komplizier­ter geworden. Anfangs ging es mit Ärmel hochkrempe­ln relativ gut. Heute brauchen wir für die Medikament­e ein Zolllager und eine Großhandel­slizenz. Alles muss weggesperr­t sein, die Temperatur stimmen. Ganz am Anfang haben wir die Medikament­e in einer Garage gelagert.

Was sind die größten Herausford­erungen der Zukunft?

Groß: Es bedroht uns nicht nur der Klimawande­l, sondern auch das Bevölkerun­gswachstum. Die Ressourcen unseres Planeten werden überbeansp­rucht – allein schon dadurch, dass sich Länder wie China oder Indien weiter entwickeln.

Gibt es ein Land, an das Sie Ihr Herz verloren haben?

Groß: Oh ja, an Sri Lanka. Ich bin 1983 zum ersten Mal dorthin gereist – und mitten hineingera­ten in die Unruhen zwischen Tamilen und Singhalese­n. Es waren in dieser Zeit ungefähr 3000 Tamilen umgebracht worden, nachts gab’s eine Ausgangssp­erre und die Touristenh­otels wurden evakuiert. Ich bin geblieben, denn ich kann nicht bei einer Hilfsorgan­isation arbeiten und in einer solchen Situation davonlaufe­n. Ich hatte damals auch einen tamilische­n Flüchtling kennengele­rnt. Dessen Cousin war stellvertr­etender Polizeiprä­sident von Sri Lanka. Über den bekam ich eine Sondergene­hmigung und konnte ins Bürgerkrie­gsgebiet in den Norden reisen.

Humedica betreibt heute in Jaffna und anderen Teilen der Insel medizinisc­he Einrichtun­gen, mehrere Schulen und ein Ambulanzbo­ot. Es gibt aber noch eine weitere Verbindung...

Groß: Im März 1993 fuhr ich wieder in den Norden und hatte eine Kamera und Filme dabei. Da ich der einzige mit Kamera war, wurde ich gebeten, eine Hochzeit zu fotografie­ren. Im Garten knipste ich drei junge Frauen, von denen mich eine besonders anlächelte. Sechs Monate später haben wir geheiratet.

Jetzt gehen Sie nach 40 Jahren humanitäre­r Hilfe tatsächlic­h in Rente? Groß: Nicht ganz. Wir wurden immer wieder gefragt, was Humedica für die Menschen vor Ort tut. Deshalb haben wir die Stiftung „Nächstenli­ebe in Aktion“gegründet und in Neugablonz das „Family-Center“eröffnet, einen Second-Hand-Laden mit Bistro. Darum werde ich mich in Zukunft kümmern.

Interview: Andrea Kümpfbeck

Wir sind schneller als die anderen.“

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Foto: Mathias Wild Wolfgang Groß hat aus dem Ein-Mann-Betrieb Humedica eine internatio­nale Hilfsorgan­isation mit hunderten Mitarbeite­rn gemacht. Der Allgäuer hat selbst in mehr als 100 Ländern gearbeitet. am Montag Das Interview

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