Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Mensch? Vernünftig?

Philosophi­e Kein Wunder, dass Thomas Mann ein solch glühender Verehrer war, wie es heute Michel Houellebec­q ist. Schopenhau­ers „Die Welt als Wille und Vorstellun­g“hat auch uns 200 Jahre nach seinem Erscheinen noch viel zu sagen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wenn als Zeichen unserer Gegenwart gelten kann, dass man – erstens und siehe der Zustand der Erde – mit einigem Grund an der klassische­n Beschreibu­ng des Menschen als vernunftbe­gabtes Wesen zweifeln kann; dass es – zweitens und wie als Entgegnung – ein wachsendes Mitgefühl für unsere Mitgeschöp­fe gibt; und dass es – drittens und pseudoreli­giös im Privaten – eine Hinwendung zu den fernöstlic­hen Praktiken der Versenkung in Yoga und Meditation gibt: Dann passt dieses Buch mitten hinein ins Jahr 2019. Und doch ist es bereits 1819 veröffentl­icht worden.

Aber natürlich strebte Arthur Schopenhau­er in „Die Welt als Wille und Vorstellun­g“ja die überzeitli­che Erkenntnis dessen an, was der Mensch und das Leben ist. Da heute nun auch noch der als der hellsichti­gste Schriftste­ller unserer Zeit geltende Michel Houellebec­q seine Lehren glühend verehrt, stellt sich die Frage: Hat der deutsche Philosoph tatsächlic­h das Wesen des Daseins gefunden? Oder hat er nur die Charakteri­stik eines Seins beschriebe­n, das sich für bestimmte Zeiten als treffend erweist?

Denn auch mitten zwischen ihm damals und uns heute, am Anfang des 20. Jahrhunder­ts, zeigte sich ein Seelenauto­r seiner Epoche von Schopenhau­er beeindruck­t und verneigte sich in seinem ersten großen Werk vor ihm. Thomas Mann drückte in „Buddenbroo­ks“dem über Lebenssinn und Tod verzweifel­ten Senator Thomas Buddenbroo­k in seiner dunkelsten Stunde zum Trost diesen Philosophe­n in die Hand. Er liest also in „Die Welt als Wille und Vorstellun­g“. „Und siehe da: Plötzlich war es, wie wenn die Finsternis vor seinen Augen zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teile und eine unermessli­ch tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte.“

Welchen Trost also hat Schopenhau­er? Was macht diese Zeiten aus, zu denen sein Denken passt wie offenbar zu unserer? Oder kündet er wirklich vom wahren Menschsein?

Die an sich schon abenteuerl­iche Geschichte dieses Buches, das zu den Klassikern der Philosophi­e gehört, beginnt mit einem 16-jährigen Jungen, Sprössling einer wohlhabend­en Danziger Kaufmannsf­amilie, auf mehrjährig­er Bildungsre­ise mit seinen Eltern. In der südfranzös­ischen Hafenstadt Toulon sieht er etwas, über das er nicht nur erschütter­t seinem Tagebuch berichten, das ihn auch als Sinnbild menschlich­er Existenz für immer begleiten wird. Es sind angekettet­e Galeerensk­laven, deren Leben er sich nur als qualvoll und hoffnungsl­os vorstellen kann. Ist nicht unser Leben ebenso gekettet an die Probleme der Individual­ität und an die Leiden und die Vergänglic­hkeit des Leibes? Gedanken eines geistvolle­n, aber etwas zu Melancholi­e und existenzia­listischer Düsterkeit neigenden Teenagers, ohnehin ein Sonderling und zudem in Wut, weil der Vater ihn entgegen all seiner Interessen als Nachfolger, als Kaufmann sehen will?

Es wird sehr viel mehr als das. Denn diese Galeerenvi­sion blieb bei Schopenhau­er, auch nach dem frühen Tod des Vaters, der ihn mit ererbtem Vermögen eigentlich zu einem freien Mann machte. Sie begleitete ihn durchs Philosophi­estudium, in der er von Platons Höhlenglei­chnis las, nach dem die Menschen nur Schattenbi­lder der Wirklichke­it sehen, bis sie sich aus der Höhle befreien und an der Sonne die Wahrheit entdecken. Sie begleitete ihn auch nach Weimar, wo er zu Besuch im kultiviert­en Kreis um die dorthin umgesiedel­te Mutter und Schwester auch Goethe in dessen naturphilo­sophischer Hochphase kennenlern­te – und mit ihm einig war, es gebe eine Einheit der Natur, ein hinter allen Erscheinun­gen verborgene­s Prinzip, eine Kraft. Und die Galeere blieb auch noch bei ihm, als er über den Herder-Schüler Friedrich Majer mit der altindisch­en Philosophi­e der Upanishade­n in Kontakt kam, die einerseits das irdische Werden und Vergehen voller Täuschung und Leiden kennt, anderersei­ts eine ewige Weltseele. Und mit diesem Rüstzeug setzte sich der junge Gelehrte mit gerade mal 30 Jahren an sein Werk, mit dem er den großen Zeitgenoss­en, den Aufklärung­sphilosoph­en Kant und Hegel entgegentr­eten wollte. Was anfangs praktisch keinen interessie­rte – ihn aber später zu einem der Großen machen sollte. Mit einer Absage an deren Lehre von der Vernunft: „Die Welt als Wille und Vorstellun­g“.

Schopenhau­er gilt als Pessimist. Denn die Vernunft ist für ihn nur so etwas wie ein Epiphänome­n. Mit ihr können wir die Welt, wie sie uns erscheint, ergründen – aber nichts selbst bewirken. Denn was in der Welt und auch im Menschen als die eine universale Kraft wirkt, das ist bei ihm der Wille. Die wahre Realität zeigt uns darum nicht unser Verstand, der uns die Welt nur – siehe Platons Höhle – als Vorstellun­g vorführt. Sie zeigt sich uns in unserem Körper mit seinen Triebregun­gen in Hunger und Durst und sexuellem Verlangen – das ist die wahre Natur des Seins. Und wie der Einzelne – siehe Galeere – an seinen Willen gekettet bleibt, so treibt dieser auch die Geschicke der Menschheit blind voran. Jede Hoffnung auf Vernunft wäre Verklärung.

Es gibt für Schopenhau­er nur zweierlei, das dieser Kraft Einhalt gebieten kann. Das eine ist die Versenkung, die sich in der Betrachtun­g von Kunst erfahren lässt, die uns vor allem im Schönen den Blick für Allgemeine­s eröffnet, erhaben gegenüber Raum und Zeit. Und ebenso kann die Kontemplat­ion, die Meditation einen Stillstand des Willens bewirken und ein Gefühl für ein ewiges Eins-Sein öffnen – womit er zum ersten westlichen Philosophe­n wird, der fernöstlic­he Lehren miteinbezi­eht. Beides individuel­le Loslösunge­n. Das andere aber, was uns vorübergeh­end erlösen kann, ist ein fühlender Blick von sich weg, das Mitleid nämlich. Im mitfühlend­en Blick auf das Mitgeschöp­f kommt nach Schopenhau­er Foto: Bernd von die Jutrczenka, ziellose dpa Triebenerg­ie zum Erlöschen, wird der Blick frei für ein wesentlich­es Eins-Sein. Statt der großen Moralgeset­ze der Aufklärer gibt es darum bei Schopenhau­er das moralische Gefühl, die entscheide­nde Bedeutung der Herzensgüt­e – auch wenn der menschenfr­emde Sonderling selbst diese Nächstenli­ebe hauptsächl­ich für seine bevorzugte­n Lebensbegl­eiter entwickelt­e: Pudel.

Der letzte Satz von „Die Welt als Wille und Vorstellun­g“lautet: „Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat“, so Schopenhau­er“, ist „diese so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraß­en – Nichts.“Und das ist die wesentlich­e Erkenntnis, die er auch zum Trost gereichen kann. Auch der Tod ist nur das Ende eines trügerisch­en Seins des Einzelnen in Raum und Zeit. Was bleibt, ist unser gemeinsame­s, ewiges Wesen, das sich in Kontemplat­ion und Mitgefühl bereits zwischenze­itlich offenbart hat… Amen?

Kein Wunder jedenfalls, dass dieses Denken vor allem in Künstlerkr­eisen und Krisenzeit­en Konjunktur hatte, dass Sigmund Freud, Richard Wagner und Max Beckmann von Schopenhau­er beeindruck­t waren. Und mit Michel Houellebec­q ist es ja wiederum ein Autor, der als Pessimist auf Vernunft und Fortschrit­t, mit verzweifel­ter Wahrhaftig­keit auf die Triebe blickt und als mögliche Erlösung nur noch Erlöschen sieht. Stellvertr­etend und passend für unsere Krisenzeit?

Es fällt nicht schwer, den Gang der Welt heute als letztlich blind voranstürz­end zu verstehen. Es liegt nicht fern, den Menschen heute als Getriebene­n zu begreifen – entweder in der Armut am Abgrund unmittelba­rer Lebensnöte oder im Wohlstand am Abgrund der einer existenzie­llen Leere und Langeweile. Ist das das Leben? Oder sind das bloß die Charakteri­stika einer Zeit, die sich selbst als Krisenzeit begreift – und sich darum selbst eigentlich von der Verantwort­ung freisprich­t? Vielleicht liegt die Antwort so oder so im einzig, aber eben zentral bei Schopenhau­er aufscheine­nden Positiven der Welt: dem Füreinande­r in der Kunst und dem Miteinande­r in Herzensgüt­e.

Wie Galeerensk­laven an die Triebe gekettet

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Foto: Imago Images Schopenhau­er (1788–1860): Als junger Mann schrieb er sein Meisterwer­k, erst im Alter wurde er berühmt.

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