Augsburger Allgemeine (Land West)
Verräter können wir alle werden
Theater Das Ein-Personen-Stück „Judas“holt die biblische Gestalt ganz in die Gegenwart. Auf der Westchorbühne vor St. Moritz entstehen mystische und beklemmende Augenblicke
Will irgendjemand seinen Namen tragen? Den Namen desjenigen, der Jesus verraten und an seine Henker ausgeliefert hat. Nein, damit steht er alleine da. Oder doch nicht? Ins Publikum auf der Westchorbühne vor St. Moritz sickert am Samstagabend bei der Premiere des Theatermonologs „Judas“allmählich die ungemütliche Ahnung ein, dass der Judas in jedem steckt – aus naiver Ahnungslosigkeit oder irriger Absicht, das Beste zu wollen.
Dieses Ein-Personen-Stück der Niederländerin Lot Vekemans, das 2007 uraufgeführt und 2012 erstmals in Deutschland gespielt wurde, will eine andere als die bekannte Geschichte erzählen. Ihr Judas Ischariot bemüht sich nicht um Entschuldigung oder Rechtfertigung seines Tuns, das er als biblisch bekannt voraussetzt. Fast beiläufig, während er einen Tisch aus dem Möbel-Mitnahmemarkt zusammenschraubt, legt er seinen Werdegang dar, garniert mit philosophischen Überlegungen. Er sieht auch gar nicht so aus wie im Oberammergauer Passionsspiel mit wallendem Kaftan und verschlagener Miene. Der Judas, den der Gastschauspieler Pirmin Sedlmeir verkörpert, ist einer von uns – mittleren Alters, im Kapuzenpulli und mit gepflegter Barttracht.
Dieser Judas bemüht sich, nicht allzu viel Schwere, allzu viel Pathos in seine Rede einzulassen. Ironisch fragt er sein Publikum: „Sie haben gemeint, jetzt wird’s ernst? Nein!“Aber so ganz stimmt das nicht. Natürlich beschäftigt sich dieser Mann mit dem Freund und Meister, dem er drei Jahre lang gefolgt ist. „Jesus soll Interesse für mich gehabt haben, sogar Sympathie“, sagt er. Anders als die vielen Messiasse der Zeit sei er gewesen, keiner der sich an seiner Anhängerschaft bereicherte, der sie in Unmündigkeit hielt, der Liebe zu den Menschen predigte und Waffen austeilte, um die Feinde zu vernichten, oder der Askese verlangte und die Kinder seiner Jünger verführte. „Er war anders. Er glaubte an Veränderung aus eigener, innerer Kraft. Er zeigte einem, was man tat und welche Folgen das hat.“
Gern hätte Judas seinen Jesus als Sieger gesehen, der die Römer niederschmettert. Leider war Jesus kein Taktiker, der sich rechtzeitig zurückgezogen hat; leider hat er sich mit einer Armee von Angsthasen umgeben und leider habe er, Judas, nicht gewusst, dass es so viel Hass gegen Jesus gab. Er wollte seinen unverstandenen Meister doch nur von der fixen Idee abbringen, er müsse für die Sünden der Menschen sterben. Direkt wendet sich der Schauspieler hier ans Publikum: „Für wen musste er sterben? Wer traut sich das noch zu verteidigen?“Niemand wagt, sich zu melden.
Mehrere solche Verfremdungseffekte hat Regisseurin Magz Barrawasser in ihre Inszenierung für die Westchorbühne eingestreut. Judas wechselt die Zeitebenen, steht ganz in der Gegenwart, fordert Stellungnahme von den Zuschauern. Und sei es eine stille, innere Gewissenserforschung. Am nächsten auf die Pelle rückt Pirmin Sedlmeir dem Publikum mit der Beschuldigung, jemand unter ihnen habe sein Getränk nicht bezahlt, und er werde herausfinden, wer es war. Dazu lässt er seinen eindringlichen Scannerblick durch die Reihen streifen und bei jedem einzelnen Gesicht verweilen. Wem sollte nicht dabei unwohl werden?
Souverän meistert der Schauspieler die unruhige Situation mitten in der Fußgängerzone. Pirmin Sedlmeir animiert Passanten, sie mögen Platz nehmen; er wartet den abfahrenden Bus ab und lässt sich nicht irritieren von lauten Nachtschwärmern. Der „Judas“ist radikal heutig und zielt nicht allein auf ein religiös eingestimmtes Publikum – obwohl der Schluss, wenn sich hinter dem Abendmahltisch das Kirchenportal öffnet und der Blick auf den Christus Salvator fällt, starke, mystische Tiefe hat. In etwas hineingezogen und schuldig zu werden, das kann jedem passieren. Und dann? Wieder am 22., 31. Mai; 7., 14. Juni, jeweils 20.30 Uhr. Eintritt frei.