Augsburger Allgemeine (Land West)
Steckt die EU wirklich in einer Krise?
Wahl Bei einer Expertenrunde über die Zukunft Europas geht es auch um die Frage, wie viel Einfluss die EU vor Ort hat. Der Neusässer Berater von EU-Kommissar Öttinger sagt: Jetzt ist Einigkeit besonders wichtig
Neusäß Wird 2019 das Schicksalsjahr für Europa? Viele Experten gehen davon aus. Michael Hager, der Kabinettschef von EU-Kommissar Günter Öttinger und selbst Neusässer, erklärte am Wochenende bei einer Gesprächsrunde im Foyer der Stadthalle: „Bei dieser Wahl wäre ein klares Bekenntnis zu
Europa wichtig.“
Eine hohe Wahlbeteiligung würde die Europäische Union stärken, nicht nur im internationalen Kontext, sondern auch gegenüber Mitgliedsstaaten, die sich nicht mehr an die Regeln der Gemeinschaft halten.
In Neusäß hätten bereits 20 Prozent ihre Briefwahlunterlagen beantragt – ein Rekord zu diesem Zeitpunkt, sagte Bürgermeister Richard Greiner. Bisher lag die Beteiligung bei Europawahlen in Neusäß insgesamt unter 50 Prozent. Greiner berichtete bei der Veranstaltung „Unruhige Zeiten für Europa?“, die von der Stadt Neusäß zusammen mit dem „Europe-Direct“-Informationszentrum Augsburg organisiert wurde, über die Auswirkungen der EU auf Neusäß. Beispiel Schmuttertal: Richtlinien und Fördergelder der EU hätten aus ehemals „sauren und sumpfigen Wiesen“wieder ein artenreiches Naturschutzgebiet gemacht. Greiner ging auch auf die Themen Sicherheit, Wirtschaft und Gesundheit ein. Greiner baute eine Brücke zwischen dem Leben in Neusäß und der Arbeit der EU.
Auf Letztere ging Andrea Gehler ein. Sie ist die Europareferentin beim Bayerischen Städtetag. Sie erklärte zum Beispiel, in welchem Maß Deutschland und Bayern von der Union profitiere. Sie räumte mit dem Vorurteil der „teuren Beamten“auf. Nur sechs Prozent des EUHaushalts seien Verwaltungsausgaben, betonte Gehler. Natürlich zahle Deutschland als Mitgliedsstaat Geld an die Union, insgesamt ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allerdings habe Bayern allein aus dem Agrarfond in der aktuellen Förderperiode über 1,5 Milliarden Euro zurückbekommen. Die Expertin erklärte in ihrem Vortrag nicht nur die Funktionsweise der Union, sondern griff auch aktuelle Themen auf: Die kommende Wahl mache 2019 zu einem „Schicksalsjahr“für die EU. „Hoffentlich kommt es nicht zu einem Aufkommen der nationalen Egoismen“, sagte Gehler.
In ihren Augen stehen die Grundwerte der EU auf dem Spiel. Ein Beispiel sei das Prinzip der Solidarität. Es habe sich in den letzten Jahren als „inhaltsleer“erwiesen und sei vor allem während der Flüchtlingskrise infrage gestellt worden. Gehler sieht dringenden Nachholbedarf aufseiten der EU.
Generell stecke die Union in einer „Legitimationskrise“, das hätten die Verstöße einiger Mitgliedsstaaten gegen europäische Grundwerte gezeigt. Sie spielte damit auf Polen, Ungarn oder Italien an. Das Resultat sei eine Glaubwürdigkeitskrise. Dafür machte die Expertin auch eine aufgebauschte Berichterstattung in den Medien verantwortlich.
Die Tatsache, dass im Zusammenhang mit Europa immer häufiger von Krise gesprochen wird, griff auch Michael Hager auf. Er sagte: „Das Glas ist mindestens halb voll.“Der Grund für diesen leisen Optimismus sei die Überwindung der Wirtschaftskrise. Hager erklärte, dass die Wirtschaftsleistung in der EU in den vergangenen acht Jahren kontinuierlich gewachsen sei und die Arbeitslosigkeit einen historischen Tiefstand erreicht habe. Natürlich gebe es innerhalb der Union Unstimmigkeiten, Alleingänge und Brüche. Trotzdem plädierte er für Einigkeit. Hager: „Zusammen kann man die Dinge besser und auch billiger lösen.“
In der heutigen Zeit sei es falsch, Europa stiefmütterlich zu behandeln, meinte Hager. Früher habe es in der Politik geheißen: „Haste einen Opa, schick ihn nach Europa.“Für Politiker sei Europa mittlerweile ein Sprungbrett. Beispiele seien die Ministerpräsidenten von Lettland und Kroatien, die beiden als Europapolitiker angefangen hätten.
Besonders wichtig sei ein vereinigtes Europa, wenn man auch weiter international eine Rolle spielen wolle. „Mit sieben Prozent der Weltbevölkerung sind wir realpolitisch klein“, sagte Hager. „Wir können uns nicht mehr auf die uneingeschränkte Freundschaft Amerikas verlassen.“
Warum das Glas immer mindestens halb voll ist