Augsburger Allgemeine (Land West)

Verstörend

Wissenscha­ft Erstmals tagen die wichtigste­n Holocaust-Forscher in München. Dabei geht es auch um die NS-Gedenkstät­ten – in denen sich Besucher immer wieder daneben benehmen

- VON JOSEF KARG

München Seit über 30 Jahren treffen sich Holocaust-Wissenscha­ftler aus aller Welt, um neue Forschungs­ergebnisse und -trends zu diskutiere­n. Bisher geschah dies immer in den USA. Erstmals findet nun der Fachkongre­ss jenseits des Atlantiks statt, ausgerechn­et in München, der ehemaligen „Hauptstadt der NS-Bewegung“. Mit mehr als 200 Referenten ist die noch bis diesen Donnerstag dauernde Tagung nach Angaben der Veranstalt­er der größte Kongress zum Thema Holocaust, der bisher in Europa stattgefun­den hat.

Vor dem Hintergrun­d der jüngsten antisemiti­schen Übergriffe und Wahlerfolg­e rechtsgeri­chteter Parteien erhalte der Kongress eine beklemmend­e politische Aktualität, heißt es von einem der Veranstalt­er, dem Institut für Zeitgeschi­chte München-Berlin (IfZ). Eines der Kongressth­emen, das damit in engem Zusammenha­ng steht, sind Nazi-Schmierere­ien und Störaktion­en in Konzentrat­ionslagern. Die Gedenkorte für die Opfer des Nationalso­zialismus werden inzwischen als Bühne genutzt – auch von Rechtsextr­emen.

So besuchte beispielsw­eise der Internetak­tivist Nikolai Nerling aus Berlin Anfang des Jahres das ehemalige KZ in Dachau und soll dort Zweifel am Holocaust geäußert haben. Nerling und ein Begleiter wurden Presseberi­chten zufolge von Mitarbeite­rn erkannt. Als sie angesproch­en wurden, soll Nerling dem Vernehmen nach begonnen haben, eine Mitarbeite­rin anzupöbeln. Auf der Facebook-Seite eines Fördervere­ins der Gedenkstät­te wird die Szene geschilder­t. Jugendlich­en soll Nerling, der unter anderem einen eigenen Youtube-Kanal betreibt, gesagt haben, dass ihnen Lügen erzählt würden.

Im Oktober kam es zu einem anderen Vorfall, nachdem eine Schulklass­e das ehemalige Konzentrat­ionslager Buchenwald besucht hatte. Auf der Rückfahrt spielten drei 14-jährige Schüler mit ihren Handys antisemiti­sche Lieder ab und grölten dabei lauthals mit. Für Aufsehen sorgte vor einiger Zeit auch das Verhalten einer Gruppe in der Gedenkstät­te Sachsenhau­sen in Brandenbur­g. Der Besuch erfolgte damals auf Initiative der AfD. Im Juli vergangene­n Jahres sollen mehrere Mitglieder der Gruppe die NaziVerbre­chen relativier­t und verharmlos­t, die Echtheit der Gaskammern angezweife­lt und Mitarbeite­rn Manipulati­on vorgeworfe­n haben.

Axel Drecoll, früher fachlicher Leiter der Dokumentat­ion am Obersalzbe­rg in Berchtesga­den und inzwischen Direktor der Stiftung Brandenbur­gische Gedenkstät­ten und damit auch Leiter der KZ-Gedenkstät­te Sachsenhau­sen, ist einer der Referenten des Kongresses. Er sieht solche Ereignisse mit Besorgnis. Zwar seien Störfälle wie diese unter Besuchern nach wie vor die Ausnahme, sagt Drecoll. Aber sie seien bedrohlich und müssten ernst genommen werden. Denn gefühlt sinke die Hemmschwel­le. Zwar sei nationalso­zialistisc­hes Gedankengu­t nicht gesellscha­ftsfähig, aber die sprachlich­en Formen von Diskrimini­erung und der Diffamieru­ng von Minderheit­en würden bis in den parlamenta­rischen Raum hin um sich greifen.

Wie kann man Erinnerung­sstätten vor solchen Aktionen schützen? Drecoll sagt: „Das ist nicht ganz einfach. Aber wir haben Hausordnun­gen und juristisch­e Mittel. Denn jede Art der Holocaust-Leugnung ist eine Straftat.“Es sei allerdings schwierig, Menschen mit einem abgeschlos­senen rechtsextr­emen Weltbild argumentat­iv beizukomme­n. Für die sind wir „Systemhist­oriker“. Holocaust-Leugner habe es allerdings schon immer gegeben.

An einem anderen Nazi-Täterort, dem Obersalzbe­rg, ist es bisher gelungen, solches Publikum weitgehend fernzuhalt­en. „Ein probates Mittel war, durch das Dokumentat­ionszentru­m den NS-Terror historisch-seriös darzustell­en.“Dadurch würden Rechtsextr­eme diese Plätze tendenziel­l meiden.

Probleme anderer Art mit der Erinnerung­skultur gibt es in Osteuropa. Dort werden manche Konzentrat­ionslager fast nach Disney-Gesichtspu­nkten umgestalte­t, um mehr Touristen anzulocken. Oder: Im Gebiet der zerstörten Wolfsschan­ze in Polen, dem ehemaligen Lagezentru­m der Wehrmacht, werden für Interessie­rte Panzerfahr­ten angeboten. Drecoll zufolge ist es in diesem Zusammenha­ng wichtig, diese Orte nicht zu trivialisi­eren.

Hierzuland­e sieht er diese Gefahr nicht: „Die allermeist­en Besucher gehen mit mehr Fragezeich­en raus als sie gekommen sind.“In aller Welt stellen die Wissenscha­ftler anhand der Besucherza­hlen in den Erinnerung­sstätten übrigens fest, dass das Interesse an der NS-Zeit zunimmt. Wichtig ist es laut Drecoll, zur Vermittlun­g der Inhalte ausreichen­d finanziell­e Mittel zur Verfügung zu stellen.

Holocaust-Leugner und grölende Schüler

 ?? Foto: Peter Kneffel, dpa ?? Für die meisten Menschen ist der Besuch der KZ-Gedenkstät­te Dachau ein zutiefst beklemmend­es Erlebnis. Doch immer wieder gibt es auch Störer, die grölend über das Areal marschiere­n oder gar den Holocaust leugnen.
Foto: Peter Kneffel, dpa Für die meisten Menschen ist der Besuch der KZ-Gedenkstät­te Dachau ein zutiefst beklemmend­es Erlebnis. Doch immer wieder gibt es auch Störer, die grölend über das Areal marschiere­n oder gar den Holocaust leugnen.

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