Augsburger Allgemeine (Land West)

Toter Winkel: So wird es für Radler sicherer

Technik Augsburg rüstet 62 kommunale Großfahrze­uge mit speziellen Systemen nach, um Unfälle zu vermeiden. Damit ist es aber noch nicht getan, meint der ADFC. Auch Unfallopfe­r Rosemarie Wirth fordert mehr

- VON INA MARKS

Rosemarie Wirths Leben hätte an jenem sonnigen Märztag 2017 vielleicht nicht diese schrecklic­he Wendung genommen. Der Lkw-Fahrer hätte die Radfahreri­n im toten Winkel höchstwahr­scheinlich bemerkt, hätte sein Fahrzeug einen Abbiegeass­istenten gehabt. Doch der 38-Tonner überrollte die zierliche Augsburger­in. Diese Gedankensp­iele bringen der 52-Jährigen ihr früheres Leben nicht mehr zurück. Umso mehr begrüßt sie nun den Schritt der Stadt Augsburg.

Die Stadt rüstet 17 Großfahrze­uge des Tiefbauamt­es und 45 des Abfallwirt­schaftsund Stadtreini­gungsbetri­ebes (AWS) mit Abbiegeass­istenz-Systemen nach – freiwillig. Man wolle einen Beitrag zu einem sicheren Miteinande­r im Stadtverke­hr leisten, heißt es. Augsburg berücksich­tigt damit auch Forderunge­n von Bürgern. Bei einer Umfrage zum fairen Miteinande­r im Straßenver­kehr in diesem Sommer formuliert­en über 740 Augsburger­innen und Augsburger ihre Bitten. Ganz vorne dabei war der Wunsch, Abbiegeass­istenten an Lkw nachzurüst­en, damit so schrecklic­he Unfälle, wie sie auch in Augsburg bereits passierten, künftig vermieden werden. Noch ist in Deutschlan­d der Einbau der Systeme, die Lkw-Fahrer mit optischen und akustische­n Warnungen auf Menschen im toten Winkel hinweisen, keine Pflicht.

Erst im Jahr 2020 sollen sie europaweit vorgeschri­eben werden. So lange wollten Stadt und Stadtwerke nicht warten. „Bei den letzten Bestellung­en unserer Busse haben wir Abbiegeass­istenten integriert, es sind acht Busse“, sagt Stadtwerke­Sprecher Jürgen Fergg. Für die anderen Busse prüfe man derzeit verschiede­ne Systeme. Die Berufsfeue­rwehr plant ebenso die Nachrüstun­g.

Auch Firmen, die über einen Fuhrpark verfügen, werden früher tätig. Die Augsburger Spedition Nuber etwa. „Vergangene­s Jahr haben wir unsere Flotte komplett erneuert. Alle Fahrzeuge sind jetzt mit einem Abbiegeass­istenten ausgestatt­et“, berichtet Speditions­leiter Rolf Pest. Dieser Schritt sei zwingend notwendig gewesen. „Darüber sind auch unsere Chauffeure froh.“Janos Korda, städtische­r Fahrradbea­uftragter, sieht das genauso: Die Fürsorgepf­licht liege bei den Unternehme­n – auch den eigenen Fahrern gegenüber. „Die Nachrüstun­g kann in einer Preisklass­e erfolgen, wo man sagen muss, es gibt keine Ausrede mehr, es nicht zu tun.“Der Einbau dauere laut städtische­m Umweltrefe­rat etwa einen Tag in der betriebsei­genen Werkstatt.

„Die Kosten belaufen sich auf circa 500 bis 1500 Euro reine Materialko­sten pro Fahrzeug, je nach Fahrzeugty­p.“Im AWS ergeben sich Gesamtkost­en von rund 67 500 Euro. Voraussich­tlich im ersten Quartal 2020 werde die Nachrüstun­g abgeschlos­sen sein. Die Stadt Augsburg will in den nächsten Wochen gezielt Unternehme­n aufrufen, ebenfalls nachzuzieh­en. Wie ihr ausgewählt­er Abbiegeass­istent funktionie­rt?

Es handelt sich um eine 150-Grad-Seitenkame­ra, einen Sieben-Zoll-Monitor und eine Steuereinh­eit, heißt es aus der Pressestel­le. Die Kamera überwacht beim Abbiegen des Fahrzeuges den rechten toten Winkel. Die Steuereinh­eit wertet die Informatio­nen im Kamerabild aus und warnt den Fahrer bei definierte­n Bewegungen in diesem Bereich. Der Fahrer wird dabei zweifach gewarnt: Der Überwachun­gsbereich im Monitor wechselt von Grün auf Rot, zugleich ertönt ein Warnsignal.

Das für ein Fahrzeug passende System zu finden, ist aufwendig, weiß Korda. Sowohl Tiefbauamt als auch AWS hätten im Vorfeld verschiede­ne getestet. Wichtig sei vor allem, dass die Fahrer damit zurechtkäm­en. Die Mitarbeite­r des Abfallwirt­schaftsbet­riebes seien über die zusätzlich­e Sicherheit froh, heißt es vonseiten der Stadt Augsburg. „Vor allem enge Straßen wie in der Altstadt sind mit Fußgängern, Radfahrern und einem erhöhten Verkehrsau­fkommen eine besondere Herausford­erung.“

Beim Deutschen Allgemeine­n Fahrradclu­b (ADFC) bewertet man das Engagement der Stadt als positives Zeichen. Vorstandsm­itglied Martin Wohlauer sieht darin aber noch keine gesamte Lösung des Sicherheit­sproblems. „Es ist nur ein kleines Mosaikstei­nchen.“Schließlic­h gebe es nicht nur städtische Fahrzeuge, die an Radwegen einbiegen. Wohlauer betrachtet weitere Verbesseru­ngen als notwendig. Verkehrsfü­hrungen und Ampelschal­tungen müssten ihm zufolge neu überdacht werden. Es könne nicht sein, dass ein Fahrzeug rechts abbiegen dürfe, während der Fahrradfah­rer zeitgleich geradeaus fahren könne, kritisiert Wohlauer. Auch seien alle Verkehrste­ilnehmer gefordert, sich vorsichtig­er und umsichtige­r zu verhalten.

Unfallopfe­r Rosemarie Wirth ist deutschlan­dweit längst eine gefragte Interviewp­artnerin, wenn es um Berichte über Assistenzs­ysteme geht. Sie ist eines der wenigen Opfer, die derartige Unfälle überlebt haben. Und sie setzt sich vehement dafür ein, dass jeder Lkw technisch nachgerüst­et wird.

Die kämpferisc­he Frau ist momentan erneut auf den Rollstuhl angewiesen. Die Zeit, als Krücken zum Gehen reichten, ist vorerst vorbei. Nach über 30 Operatione­n kommt Rosemarie Wirth nur mit einem Cocktail aus Schmerzmit­teln durch den Tag. Sie gilt als zu 90 Prozent behindert. Seit einigen Monaten, erzählt die 1,65 Meter große Frau, leide sie unter Flashbacks. Immer wieder durchlebt Wirth diegefährl­ich sen Albtraum. Als der Lkw sie überrollte, zurücksetz­te und sie noch einmal überfuhr. Wirth sagt, der 38-Tonner sei auch über ihre Seele gefahren. Die Schuld an dem Unfall sieht sie nicht beim Lkw-Fahrer, sondern beim Arbeitgebe­r. „Ohne Abbiegeass­istenten nehmen Firmen in Kauf, dass ihre Mitarbeite­r unabsichtl­ich Menschen zu Schrott oder zu Tode fahren.“»Kommentar

 ?? Fotos: Silvio Wyszengrad ?? Der elektronis­che Bildschirm zeigt dem Fahrer des AWS-Müllfahrze­uges den Radfahrer im toten Winkel, der durch einen roten Rahmen markiert ist. Parallel dazu wird der Lkw-Fahrer durch ein lautes Warnsignal auf die gefährlich­e Situation aufmerksam gemacht.
Fotos: Silvio Wyszengrad Der elektronis­che Bildschirm zeigt dem Fahrer des AWS-Müllfahrze­uges den Radfahrer im toten Winkel, der durch einen roten Rahmen markiert ist. Parallel dazu wird der Lkw-Fahrer durch ein lautes Warnsignal auf die gefährlich­e Situation aufmerksam gemacht.
 ??  ?? Rosemarie Wirth wurde 2017 in der Jakobervor­stadt von einem Lkw überfahren.
Rosemarie Wirth wurde 2017 in der Jakobervor­stadt von einem Lkw überfahren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany