Augsburger Allgemeine (Land West)
Was bleibt: Drei Tage entlang der ehemaligen Grenze durch Berlin
Eine Wanderung durch Berlin
Der Weg zieht sich fast 50 Kilometer lang quer durch Berlin. Es gibt Knicke, Kurven, Richtungswechsel im Zickzack – vor allem aber lange Geraden. Wo dieser Weg verläuft, zeigt er an, was einmal eine Wunde war, entstanden durch das Auseinanderreißen einer Millionenstadt am 13. August 1961. Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall vom 9. November 1989, ist der innerstädtisch 46,4 Kilometer lange Berliner Mauerweg eine Narbe der Geschichte. Geglättet und schrundig, öde und veredelt, bizarr und bunt, erschütternd und grotesk. Markierungen im Boden dokumentieren den Grenzverlauf zwischen Ost und West: über Friedhöfe, durch S-Bahnhöfe, mitten durch die Spree, durch Wohnstraßen, an Böschungen und Laubenkolonien entlang. Geblieben ist eine Spur der Steine, über die man stolpern oder hinwegsehen kann. Der Mauerweg ist ein Marathon der Erinnerung – oder einfach nur ein toller Radweg durch die deutsche Hauptstadt von heute. Das neue Berlin über- und verbaut die Teilung, frisst sie mehr und mehr auf: Wohnen, Verkehr, Freizeit – und ein bisschen Gedächtnis. Nicht nur die Stadtautobahn A 113 folgt dem alten „Todesstreifen“. Mal führt das zweireihige Kopfsteinpflasterband vorne in einen „Vapiano“hinein und kommt weiter hinten aus einem „Starbucks“wieder raus.
Nicht alles ist schmerzfrei zusammengewachsen zwischen Ost und West. Die Mauer ist länger weg, als sie stand. Schwarzweiß ist die Erinnerung auf den Dokumentationstafeln entlang des Mauerwegs, farbig sind die Werbebanner der Immobilienentwickler. Die
Mauer selbst ist bis auf sehr wenige, unter Denkmalschutz stehende Relikte, abgeräumt, fortgeschafft, geschliffen. Insgesamt 1,7 Millionen Tonnen Bauschutt sind weggekarrt. Die bröselnden Reste sind Gegenstand des touristischen Pflichtprogramms. Aber der breite Grenzstreifen, die Leere zwischen Hinterlandmauer und Westmauer, der Wahnsinn und die Tektonik der Trennung ist dem bauboomenden Berlin an sehr vielen Stellen noch immer eingeschrieben als eine unübersehbare Dehnungsfuge zwischen Ost und West.
Wir sind den Berliner Mauerweg von Süden hinauf nach Norden abgelaufen. Eine Spurenlese zwischen Graureihern und Graffiti, Monstrosität und Monotonie, Hochhäusern und Hotspots, Erinnerungskultur und Historienkitsch, Unterholz und Lärmschutzwand.
Unser Wundern über die Banalität der Orte, die Gnadenlosigkeit der Zeit, die langsam, aber sicher auch die Spuren eines Bauwerks tilgt, an dem so viele Leben zerschellt sind, beginnt schon beim Aussteigen aus dem Bus Linie 171, Haltestelle Hiltrud-DudekWeg. Links der Straße erstreckt sich eine Brache bis zum Horizont. Plastiksäcke mit Grünschnitt liegen zwischen Gestrüpp und hohem Gras. Auf einem breiten Mast drehen sich hinter Glas Werbeplakate. Rechts der Straße bietet der „Stadtrandhof“Freizeiterlebnisse für Kinder und Jugendliche. Willkommen auf dem Gebiet des einstigen Todesstreifens.
Hier, kurz hinter dem heutigen Ortsschild von Berlin, war einst der Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee. Wer von Westberlin zum Flughafen Schönefeld wollte, musste diesen Weg nehmen. Ausländer und Bürger der DDR bekamen bei Vorlage eines Flugtickets ein Transitvisum. Trotz der gefürchteten Grenzkontrollen machten das viele. Flüge mit Interflug, der DDR-Fluglinie, waren viel günstiger. Auch die DDR hatte ein Interesse an diesem Grenzverkehr: Die Tickets mussten mit West-Mark bezahlt werden, das brachte Devisen ins Land. Fliegen kann man von Schönefeld immer noch, auch wenn am geplanten Großflughafen BER etwas weiter südlich nun schon fast halb so lange gebaut wird, wie die Mauer stand. Hier beginnt unser Lauf auf dem Mauerweg. Und hier stehen auch die ersten von noch vielen weiteren orangefarbenen Stelen, die uns immer wieder auf Geschichten von Orten und Menschen entlang dieses Wegs verweisen werden. Meist sind es Geschichten ohne Happy End. Wie die von Christel und Eckhard Wehage – sie Psychologin im Harz, er Berufssoldat in Stralsund.
Jahrelang bemühte sich das Ehepaar in der DDR, einen gemeinsamen Wohn- und Arbeitsort zu bekommen. Weil nichts klappte, entschieden sie sich für einen abenteuerlichen Fluchtplan. Am 10. März 1970 gingen sie am Flughafen Schönefeld an Bord einer Maschine nach Leipzig. Kurz nach dem Start zog Eckhard Wehage eine Pistole und verlangte, das Flugzeug solle Hannover ansteuern. Doch ein Land, das seine Bürger einmauert, hat auch so einen Fall vorhergesehen. Wehage schaffte es nicht ins Cockpit. Die Stewardess überzeugte ihn aber, man steuere aus Treibstoffmangel den Westberliner Flughafen Tempelhof an. Als die beiden Flugzeugentführer sahen, dass die Piloten doch wieder Anflug auf Schönefeld nahmen, erschossen sie sich selbst.
Wir laufen los. Der Imbiss „Am Ziel“hat noch geschlossen. Dafür ist auf dem breiten Radweg, zu dem der Mauerweg gleich danach wird, schon Verkehr. Leute führen ihre Hunde aus, Radler ziehen auf dem glatten Band aus Asphalt zügig an uns vorbei. Ein Graureiher döst mitten in einem Tümpel auf einem Stein, lässt sich weder von uns noch von den Enten stören, die aufgeregt um ihn herum quaken. Neben dem Hauptweg führen kleine Pfade zu Bänken neben jungen Birken. Das Grenzgebiet ist heute Teil des Landschaftsparks Rudow-Altglienicke. Angeblich grasen hier auch Wasserbüffel, verrät ein Schild. Wenn das ständige Rauschen der Autobahn nicht wäre, die sich rechts mal hinter einer Lärmschutzwand, mal unter einer Einhausung versteckt, das Idyll wäre perfekt.
Es dauert ein paar Kilometer, bis wieder eine orangefarbene Stele als Störer in den Himmel ragt. Wo heute hinter Hecken schmucke Einfamilienhäuser stehen, stand einst eine Radarstation der US-Armee. Von dort aus gruben Briten und Amerikaner noch vor Mauerbau einen Spionagetunnel unter der Grenze hindurch und verschafften sich Zugang zu den Telefonkabeln, über welche die interne Kommunikation der sowjetischen Streitkräfte in der DDR lief. Elf Monate ging das gut, dann hat ein britischer Doppelagent alles an den KGB verraten. Bis April 1956 konnten die Alliierten fast eine halbe Million Gespräche aufzeichnen. Die Bänder wurden zur Auswertung täglich in die USA und nach England geflogen. Beim Bau der Autobahn A 113 wurde im Jahr 2005 das letzte Stück des Tunnels geborgen und in ein Museum gebracht. Wieder eine Spur weniger.
Wenn keiner da ist, der sich kümmert, verschwinden die Dinge einfach. Die Öffnung der Grenze hat die Mauer überflüssig gemacht. Und fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Vorstellung, Polizisten könnten auf Menschen schießen, die Deutschland verlassen wollen, geradezu absurd. Wenn da plötzlich noch ein Stück echter Mauer auftaucht, weht einen der Hauch der Geschichte darum umso heftiger an. Kurz bevor die Autobahn nach Westen schwenkt, steht noch so ein Stück: rund 450 Meter originale Hinterlandmauer, von Osten gesehen der erste Teil, der immer zwischen 50 und 500 Meter breiten Grenzanlagen. An einigen Stellen schimmert noch der weiße Anstrich hervor, durch den sich etwaige „Republikflüchtlinge“besser vor dem Hintergrund abzeichnen sollten. Heute soll ein grüner Zaun die altersschwach und brüchig wirkende Betonbarriere vor Vandalismus schützen. Entlang der Rudower Straße, an der ein trostloses Gewerbegebiet angrenzt, ist die Mauer hinter dem Zaun kaum noch zu sehen. Plakate werben für eine Erotikmesse und Reisevorträge über Norwegen und Südafrika. Bandenwerbung im Kapitalismus.
Weiter geht’s. Der „antifaschistische Schutzwall“, wie die Mauer in der offiziellen DDR-Sprachregelung hieß, ist jetzt durch einen Lärmschutzwall ersetzt worden. Kilometerlang zieht sich eine hohe Wand entlang der A 113, die nach dem Mauerfall auf dem alten Grenzstreifen gebaut worden ist. Ab und zu sieht man vom Mauerweg aus ein blaues Autobahnschild hervorlugen – sonst ist nur das Rauschen des Verkehrs jenseits der Wand zu hören. Eine öde Gegend, ein Niemandslandkorridor mit Radweg. Rechts die Lärmschutzwand, fast immer deutlich höher, als es einst die Mauer mit ihren 3,60 Metern war. Links hinter meterhohem Dornengebüsch der Teltowkanal. Immer geradeaus verläuft dazwischen der geteerte Mauerweg. Radfahrer sausen vorbei – hier hält sich niemand lange auf. Auf Höhe der Massantebrücke dann zwei Fotos, die an DDR-Grenzsoldaten erinnern.
Siegfried Widera der eine. Er ist 22 Jahre alt, als ihn drei DDR-Flüchtlinge am 23. August 1963 mit einer Eisenstange niederschlagen. Widera erleidet einen Schädelbasisbruch, an dem er zwei Wochen darauf stirbt. Georg Feldhahn der andere. Der junge Grenzpolizist ertrinkt bei einem nächtlichen Fahnenfluchtversuch über den Teltowkanal. Er wird 20 Jahre alt. Sein Schicksal kann wie das so vieler Toter an der Mauer erst nach der Wiedervereinigung aufgeklärt werden.
Auf der Westseite ragen riesige weiße Tanks auf, weiter dahinter die Hochhäuser von Gropiusstadt. Später eine Siedlung mit weißen neuen Einfamilienhäusern am Teltowkanal – auf der anderen Seite, die einmal das „rettende Ufer“war für jene, die hier an diesem Grenzabschnitt die Flucht aus Ostberlin wagten. Am Britzer Zweigkanal, der rechtwinklig vom Teltowkanal abgeht, nahm die Mauer einst eine Kurve ostwärts. Heute ist hier unmittelbar neben dem Mauerweg dichtes Unterholz, der Todesstreifen ist zugewuchert wie Ruinen der Maya im Dschungel von Mexiko. Wer sich durch Schlingpflanzen und Wildwuchs schlägt, stößt auf ein Hundegrab und einen schrundigen, halb im Erdreich versunkenen Rest Betonmauer und sieht freies Feld östlich der A 113.
Direkt am Britzer Zweigkanal steht eine rostfarbene Gedenkstele. „Hier wurde am 5. Februar 1989 der zwanzigjährige Chris Gueffroy getötet. Er war der letzte Flüchtling, der erschossen wurde, als er versuchte, die DDRGrenzanlagen zu überwinden.“Jemand hat einen Zweig buntes Herbstlaub am Fuß des Denkmals abgelegt. Von der Ferne sehen wir eine Frau und einen Jungen auf Fahrrädern vor der Stele anhalten. Als wir aufschließen, fahren sie wortlos weiter. Chris Gueffroy fehlten sieben Monate und vier Tage. Auf der gegenüberliegenden Seite des Stichkanals eine Lagerhalle, ein Lastwagen wird beladen. Etwas weiter rechts eine riesige Wandwerbung für „Jacobs Krönung“.
Wer von hier weitergeht, stößt auf die Chris-Gueffroy-Allee. Rechts Datschen einer Kleingartenkolonie mit dem Namen „Harmonie“. Von hier ist es nicht mehr weit zum ehemaligen Grenzübergang „Sonnenallee“zwischen Neukölln (West) und Treptow (Ost). Kennt man von dem Kinofilm, in dem Detlev Buck einen etwas trotteligen Grenzer spielt. ist das hier so unspektakulär wie ein Zebrastreifen. Zwei Fernrohre, wie man sie von Aussichtspunkten kennt, stehen sich auf beiden Straßenseiten gegenüber: „Übergänge“nennt sich das Kunstwerk von Heike Ponwitz.
Die vierstöckigen Plattenbauten direkt am ehemaligen Grenzstreifen sind frisch gestrichen, mit idyllischen Wandgemälden aufgehübscht. Hier wohnten zu DDR-Zeiten zuverlässige Mitarbeiter der Gewerkschaftszeitung Tribüne. Heute prangt das Logo der „Wohnungsbaugenossenschaft Treptow Nord“auf den Fassaden. Der Mauerfall hat den Menschen, die heute hier wohnen – noch hier wohnen? – einen lang gezogenen Park direkt vor der Haustüre beschert. Auf einer Bank sitzt ein Rentnerpaar, und als wir schon fast vorbeigegangen sind, weht noch ein Gesprächsfetzen zu uns herüber: „Die stand da hinten, die Mauer…“Moment mal, können Sie das bitte noch einmal erzählen?
Henry Carmichael, so heißt der Mann, der da sitzt, lässt sich nicht lange bitten. „Wir wohnen gleich da drüben“, sagt er und zeigt mit dem Finger nach Westen. Wenige Meter Luftlinie, aber damals doch in einer anderen Welt. „Die erste Häuserreihe da vor dem schmalen Kanal stand damals noch nicht. Unsere Wohnung ging direkt raus auf die Mauer. Wir haben die Amis in ihren Jeeps an der Grenze Patrouille fahren sehen. Im Osten haben sie dann immer „Ami go home“vom Balkon geschrien“, erinnert sich Carmichael, Jahrgang 1938 und gebürtiger Schotte. Ein Wachturm stand hier auch. Und seine Waltraud ergänzt: „Unser Schlafzimmerfenster ging raus auf die Grenze. Das war schrecklich, die Schreie und das Schießen, wenn einer versucht hat abzuhauen. Bei Bekannten unseres Sohnes ist sogar einmal eine Kugel durch das Fenster gegangen.“Heute sei das ganz anders. So schön grün und viele Tiere: „Ich habe kleine Krähen großgezogen. Und für die Igel stelle ich auch immer was raus, manchmal kommt auch ein Fuchs“, schwärmt der hagere Mann.
Das Gefühl, in einer Großstadt zu sein, stellt sich auch danach nicht ein. Kleingartenanlagen säumen den ehemaligen Grenzstreifen an vielen Stellen. Die meisten gab es wohl schon früher, so wie die Kleingartenkolonie „Sorgenfrei“im Osten. Im Frühsommer 1962 zeigen Grenzpolizisten hier spielenden Kindern ihre Maschinenpistolen. Dabei löst sich ein Schuss und verletzt den 13-jährigen Wolfgang Glöde am 11. Juni tödlich. Kein Unfall ist, als DDR-Grenzer am 14. März 1966 nicht weit davon entfernt zwei Kinder erschießen. Jörg Hartmann, 10, und Lothar Schleusner, 13, hatten sich nach Einbruch der Dunkelheit ins Grenzgebiet geschlichen, weil sie wohl heimlich Jörgs Vater in Westberlin besuchen wollten. Wir schauen noch einmal hin, auf grüne Hecken und gepflegte Gärten und laufen schweigend weiter.
Eine riesige Baustelle reißt uns aus unseren Gedanken. Ein neues Stück Autobahn wird gleich neben den Kleingärten in den Boden versenkt. Bis 2022 soll die Verlängerung der A100 fertig sein. Sechs Spuren breit, ein Betonbecken so tief wie ein Fluss. Berlin kann keine Großprojekte? Vielleicht. Aber in welcher anderen Stadt könnte man so ein 500-Millionen-Euro-Projekt noch in die bestehende Bebauung einpassen? Beinahe hätten wir es übersehen: Halb versteckt unter einer rot-weißen Absperrung und welken Blättern kommt die uns schon so vertraute Mauerlinie aus einer zweireihig verlegten Granitsteinreihe wieder zum Vorschein. Ein paar Meter weiter endet sie an der Mauer, die zum S-Bahn-Damm führt. Wir müssen einmal links, einmal rechts und sind jetzt in der Heidelbergerstraße. Hier ist noch nicht alles geschleckt. Aber mit jedem Häuserblock, den wir vorankommen, werden die Wohnungen schicker und die Mieten teurer. Eine unauffällige Tafel an Hausnummer 35 lässt uns kurz innehalten.
Vom Keller dieses Hauses wurde im März 1962 ein Fluchttunnel zum gegenüberliegenden Haus in Ostberlin gegraben. 50 Menschen haben es so rausgeschafft aus der DDR. Bis der Stasi-Spitzel „IM Naumann“, der in dem Haus im Osten wohnte, den Tunnel verraten hat. Heinz Jercha will an diesem Abend weitere Flüchtlinge rüberbringen. Doch die Stasi wartet schon. Ein Schuss trifft Jercha in den Rücken. Er robbt zwar noch zurück in den Westen, stirbt aber kurz darauf an inneren Blutungen. Sieben Monate steht die Mauer da erst. Aber Hoffnung, ihren Fall zu erleben, hatten wohl nicht viele.
Tunnel gab es jedenfalls noch viel mehr, wie wir noch lernen werden. Nirgends waren es so viele wie in der Heidelberger Straße. Gescheitert sind die meisten aber nicht an der Ausführung, sondern weil sie verraten wurHeute den. Dem Verlauf des Kopfsteinpflasterbands folgend biegen wir von der Heidelberger Straße in Neukölln in die Bouchéstraße. Auch wenn die Mauer nicht mehr steht: Die Vorstellung, dass hier Westberliner gelebt haben, keine sieben Meter zwischen Haustüre und Mauer, macht fassungslos. Aber so war es.
Alte Fotos zeigen die Absurdität des Mauerverlaufs über die Fahrbahn. Traten die Menschen aus ihren Häusern, konnten sie auf dem Gehsteig nur nach rechts oder links. Wenn die Bewohner der Erdgeschosswohnungen aus dem Fenster blickten, sahen sie nur die Mauer. Man gewöhnt sich an alles. Sogar daran, die Mauer direkt vor der Nase zu haben. Eigentlich gehörte die Bouchéstraße nicht nur zu zwei Dritteln, sondern in ganzer Breite zum sowjetischen Sektor. Denn die Sektorengrenzen der Siegermächte orientierten sich an den alten Berliner Bezirksgrenzen von 1920. Aber damit Wachposten, Arbeiter und Material beim Bau immer im Osten waren, rückte die Mauer in die Mitte der Straße.
Auf der Harzer Straße überschreiten wir noch eine Grenze. Unklar markiert beginnt hier ein neues Berlin, das alternative, die Heimat von Hipstern und Partygängern. Je näher wir dem Landwehrkanal kommen, desto auffälliger wird das auch an den Leuten, die wir sehen. Auf einer Grünfläche direkt am Wasser genießen viele, wie scheinbar überall in Berlin, vorwiegend junge Menschen noch die letzten Sonnenstrahlen. Alles wirkt entspannt und friedlich. Etwas weiter runter den Weg trotzt eine Wagenburgsiedlung der „Entwicklung“des Viertels. Ringsum ist alles mit einem kreuz und quer genagelten und gestapelten Holzzaun abgeschottet. Wir gehen weiter. In der kleinen Parkanlage, die heute auf dem ehemaligen Grenzstreifen liegt, spielen Eltern mit ihren Kindern – ein paar Meter weiter wird gedealt. Ein Nicken, ein kurzes Abtauchen in ein Gebüsch, ein kurzer Handschlag, schon geht der Kunde weiter. Zur Straße hin steht ein eckiger Turm, der auf den ersten Blick aussieht wie ein Umspannhäuschen. Beim zweiten Hinsehen erkennt man den Suchscheinwerfer auf dem Dach. Von der ehemaligen Führungsstelle Schlesischer Busch wurden 18 Wachtürme und die elektronischen Sicherungsanlagen dieses Grenzabschnittes beaufsichtigt. Ein Verein hat sich um seinen Erhalt verdient gemacht, sonst wäre er weg.