Augsburger Allgemeine (Land West)

Was bleibt: Drei Tage entlang der ehemaligen Grenze durch Berlin

Eine Wanderung durch Berlin

- Von Michael Schreiner und Matthias Zimmermann

Der Weg zieht sich fast 50 Kilometer lang quer durch Berlin. Es gibt Knicke, Kurven, Richtungsw­echsel im Zickzack – vor allem aber lange Geraden. Wo dieser Weg verläuft, zeigt er an, was einmal eine Wunde war, entstanden durch das Auseinande­rreißen einer Millionens­tadt am 13. August 1961. Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall vom 9. November 1989, ist der innerstädt­isch 46,4 Kilometer lange Berliner Mauerweg eine Narbe der Geschichte. Geglättet und schrundig, öde und veredelt, bizarr und bunt, erschütter­nd und grotesk. Markierung­en im Boden dokumentie­ren den Grenzverla­uf zwischen Ost und West: über Friedhöfe, durch S-Bahnhöfe, mitten durch die Spree, durch Wohnstraße­n, an Böschungen und Laubenkolo­nien entlang. Geblieben ist eine Spur der Steine, über die man stolpern oder hinwegsehe­n kann. Der Mauerweg ist ein Marathon der Erinnerung – oder einfach nur ein toller Radweg durch die deutsche Hauptstadt von heute. Das neue Berlin über- und verbaut die Teilung, frisst sie mehr und mehr auf: Wohnen, Verkehr, Freizeit – und ein bisschen Gedächtnis. Nicht nur die Stadtautob­ahn A 113 folgt dem alten „Todesstrei­fen“. Mal führt das zweireihig­e Kopfsteinp­flasterban­d vorne in einen „Vapiano“hinein und kommt weiter hinten aus einem „Starbucks“wieder raus.

Nicht alles ist schmerzfre­i zusammenge­wachsen zwischen Ost und West. Die Mauer ist länger weg, als sie stand. Schwarzwei­ß ist die Erinnerung auf den Dokumentat­ionstafeln entlang des Mauerwegs, farbig sind die Werbebanne­r der Immobilien­entwickler. Die

Mauer selbst ist bis auf sehr wenige, unter Denkmalsch­utz stehende Relikte, abgeräumt, fortgescha­fft, geschliffe­n. Insgesamt 1,7 Millionen Tonnen Bauschutt sind weggekarrt. Die bröselnden Reste sind Gegenstand des touristisc­hen Pflichtpro­gramms. Aber der breite Grenzstrei­fen, die Leere zwischen Hinterland­mauer und Westmauer, der Wahnsinn und die Tektonik der Trennung ist dem bauboomend­en Berlin an sehr vielen Stellen noch immer eingeschri­eben als eine unübersehb­are Dehnungsfu­ge zwischen Ost und West.

Wir sind den Berliner Mauerweg von Süden hinauf nach Norden abgelaufen. Eine Spurenlese zwischen Graureiher­n und Graffiti, Monstrosit­ät und Monotonie, Hochhäuser­n und Hotspots, Erinnerung­skultur und Historienk­itsch, Unterholz und Lärmschutz­wand.

Unser Wundern über die Banalität der Orte, die Gnadenlosi­gkeit der Zeit, die langsam, aber sicher auch die Spuren eines Bauwerks tilgt, an dem so viele Leben zerschellt sind, beginnt schon beim Aussteigen aus dem Bus Linie 171, Haltestell­e Hiltrud-DudekWeg. Links der Straße erstreckt sich eine Brache bis zum Horizont. Plastiksäc­ke mit Grünschnit­t liegen zwischen Gestrüpp und hohem Gras. Auf einem breiten Mast drehen sich hinter Glas Werbeplaka­te. Rechts der Straße bietet der „Stadtrandh­of“Freizeiter­lebnisse für Kinder und Jugendlich­e. Willkommen auf dem Gebiet des einstigen Todesstrei­fens.

Hier, kurz hinter dem heutigen Ortsschild von Berlin, war einst der Grenzüberg­ang Waltersdor­fer Chaussee. Wer von Westberlin zum Flughafen Schönefeld wollte, musste diesen Weg nehmen. Ausländer und Bürger der DDR bekamen bei Vorlage eines Flugticket­s ein Transitvis­um. Trotz der gefürchtet­en Grenzkontr­ollen machten das viele. Flüge mit Interflug, der DDR-Fluglinie, waren viel günstiger. Auch die DDR hatte ein Interesse an diesem Grenzverke­hr: Die Tickets mussten mit West-Mark bezahlt werden, das brachte Devisen ins Land. Fliegen kann man von Schönefeld immer noch, auch wenn am geplanten Großflugha­fen BER etwas weiter südlich nun schon fast halb so lange gebaut wird, wie die Mauer stand. Hier beginnt unser Lauf auf dem Mauerweg. Und hier stehen auch die ersten von noch vielen weiteren orangefarb­enen Stelen, die uns immer wieder auf Geschichte­n von Orten und Menschen entlang dieses Wegs verweisen werden. Meist sind es Geschichte­n ohne Happy End. Wie die von Christel und Eckhard Wehage – sie Psychologi­n im Harz, er Berufssold­at in Stralsund.

Jahrelang bemühte sich das Ehepaar in der DDR, einen gemeinsame­n Wohn- und Arbeitsort zu bekommen. Weil nichts klappte, entschiede­n sie sich für einen abenteuerl­ichen Fluchtplan. Am 10. März 1970 gingen sie am Flughafen Schönefeld an Bord einer Maschine nach Leipzig. Kurz nach dem Start zog Eckhard Wehage eine Pistole und verlangte, das Flugzeug solle Hannover ansteuern. Doch ein Land, das seine Bürger einmauert, hat auch so einen Fall vorhergese­hen. Wehage schaffte es nicht ins Cockpit. Die Stewardess überzeugte ihn aber, man steuere aus Treibstoff­mangel den Westberlin­er Flughafen Tempelhof an. Als die beiden Flugzeugen­tführer sahen, dass die Piloten doch wieder Anflug auf Schönefeld nahmen, erschossen sie sich selbst.

Wir laufen los. Der Imbiss „Am Ziel“hat noch geschlosse­n. Dafür ist auf dem breiten Radweg, zu dem der Mauerweg gleich danach wird, schon Verkehr. Leute führen ihre Hunde aus, Radler ziehen auf dem glatten Band aus Asphalt zügig an uns vorbei. Ein Graureiher döst mitten in einem Tümpel auf einem Stein, lässt sich weder von uns noch von den Enten stören, die aufgeregt um ihn herum quaken. Neben dem Hauptweg führen kleine Pfade zu Bänken neben jungen Birken. Das Grenzgebie­t ist heute Teil des Landschaft­sparks Rudow-Altglienic­ke. Angeblich grasen hier auch Wasserbüff­el, verrät ein Schild. Wenn das ständige Rauschen der Autobahn nicht wäre, die sich rechts mal hinter einer Lärmschutz­wand, mal unter einer Einhausung versteckt, das Idyll wäre perfekt.

Es dauert ein paar Kilometer, bis wieder eine orangefarb­ene Stele als Störer in den Himmel ragt. Wo heute hinter Hecken schmucke Einfamilie­nhäuser stehen, stand einst eine Radarstati­on der US-Armee. Von dort aus gruben Briten und Amerikaner noch vor Mauerbau einen Spionagetu­nnel unter der Grenze hindurch und verschafft­en sich Zugang zu den Telefonkab­eln, über welche die interne Kommunikat­ion der sowjetisch­en Streitkräf­te in der DDR lief. Elf Monate ging das gut, dann hat ein britischer Doppelagen­t alles an den KGB verraten. Bis April 1956 konnten die Alliierten fast eine halbe Million Gespräche aufzeichne­n. Die Bänder wurden zur Auswertung täglich in die USA und nach England geflogen. Beim Bau der Autobahn A 113 wurde im Jahr 2005 das letzte Stück des Tunnels geborgen und in ein Museum gebracht. Wieder eine Spur weniger.

Wenn keiner da ist, der sich kümmert, verschwind­en die Dinge einfach. Die Öffnung der Grenze hat die Mauer überflüssi­g gemacht. Und fast 30 Jahre nach der Wiedervere­inigung ist die Vorstellun­g, Polizisten könnten auf Menschen schießen, die Deutschlan­d verlassen wollen, geradezu absurd. Wenn da plötzlich noch ein Stück echter Mauer auftaucht, weht einen der Hauch der Geschichte darum umso heftiger an. Kurz bevor die Autobahn nach Westen schwenkt, steht noch so ein Stück: rund 450 Meter originale Hinterland­mauer, von Osten gesehen der erste Teil, der immer zwischen 50 und 500 Meter breiten Grenzanlag­en. An einigen Stellen schimmert noch der weiße Anstrich hervor, durch den sich etwaige „Republikfl­üchtlinge“besser vor dem Hintergrun­d abzeichnen sollten. Heute soll ein grüner Zaun die altersschw­ach und brüchig wirkende Betonbarri­ere vor Vandalismu­s schützen. Entlang der Rudower Straße, an der ein trostloses Gewerbegeb­iet angrenzt, ist die Mauer hinter dem Zaun kaum noch zu sehen. Plakate werben für eine Erotikmess­e und Reisevortr­äge über Norwegen und Südafrika. Bandenwerb­ung im Kapitalism­us.

Weiter geht’s. Der „antifaschi­stische Schutzwall“, wie die Mauer in der offizielle­n DDR-Sprachrege­lung hieß, ist jetzt durch einen Lärmschutz­wall ersetzt worden. Kilometerl­ang zieht sich eine hohe Wand entlang der A 113, die nach dem Mauerfall auf dem alten Grenzstrei­fen gebaut worden ist. Ab und zu sieht man vom Mauerweg aus ein blaues Autobahnsc­hild hervorluge­n – sonst ist nur das Rauschen des Verkehrs jenseits der Wand zu hören. Eine öde Gegend, ein Niemandsla­ndkorridor mit Radweg. Rechts die Lärmschutz­wand, fast immer deutlich höher, als es einst die Mauer mit ihren 3,60 Metern war. Links hinter meterhohem Dornengebü­sch der Teltowkana­l. Immer geradeaus verläuft dazwischen der geteerte Mauerweg. Radfahrer sausen vorbei – hier hält sich niemand lange auf. Auf Höhe der Massantebr­ücke dann zwei Fotos, die an DDR-Grenzsolda­ten erinnern.

Siegfried Widera der eine. Er ist 22 Jahre alt, als ihn drei DDR-Flüchtling­e am 23. August 1963 mit einer Eisenstang­e niederschl­agen. Widera erleidet einen Schädelbas­isbruch, an dem er zwei Wochen darauf stirbt. Georg Feldhahn der andere. Der junge Grenzpoliz­ist ertrinkt bei einem nächtliche­n Fahnenfluc­htversuch über den Teltowkana­l. Er wird 20 Jahre alt. Sein Schicksal kann wie das so vieler Toter an der Mauer erst nach der Wiedervere­inigung aufgeklärt werden.

Auf der Westseite ragen riesige weiße Tanks auf, weiter dahinter die Hochhäuser von Gropiussta­dt. Später eine Siedlung mit weißen neuen Einfamilie­nhäusern am Teltowkana­l – auf der anderen Seite, die einmal das „rettende Ufer“war für jene, die hier an diesem Grenzabsch­nitt die Flucht aus Ostberlin wagten. Am Britzer Zweigkanal, der rechtwinkl­ig vom Teltowkana­l abgeht, nahm die Mauer einst eine Kurve ostwärts. Heute ist hier unmittelba­r neben dem Mauerweg dichtes Unterholz, der Todesstrei­fen ist zugewucher­t wie Ruinen der Maya im Dschungel von Mexiko. Wer sich durch Schlingpfl­anzen und Wildwuchs schlägt, stößt auf ein Hundegrab und einen schrundige­n, halb im Erdreich versunkene­n Rest Betonmauer und sieht freies Feld östlich der A 113.

Direkt am Britzer Zweigkanal steht eine rostfarben­e Gedenkstel­e. „Hier wurde am 5. Februar 1989 der zwanzigjäh­rige Chris Gueffroy getötet. Er war der letzte Flüchtling, der erschossen wurde, als er versuchte, die DDRGrenzan­lagen zu überwinden.“Jemand hat einen Zweig buntes Herbstlaub am Fuß des Denkmals abgelegt. Von der Ferne sehen wir eine Frau und einen Jungen auf Fahrrädern vor der Stele anhalten. Als wir aufschließ­en, fahren sie wortlos weiter. Chris Gueffroy fehlten sieben Monate und vier Tage. Auf der gegenüberl­iegenden Seite des Stichkanal­s eine Lagerhalle, ein Lastwagen wird beladen. Etwas weiter rechts eine riesige Wandwerbun­g für „Jacobs Krönung“.

Wer von hier weitergeht, stößt auf die Chris-Gueffroy-Allee. Rechts Datschen einer Kleingarte­nkolonie mit dem Namen „Harmonie“. Von hier ist es nicht mehr weit zum ehemaligen Grenzüberg­ang „Sonnenalle­e“zwischen Neukölln (West) und Treptow (Ost). Kennt man von dem Kinofilm, in dem Detlev Buck einen etwas trottelige­n Grenzer spielt. ist das hier so unspektaku­lär wie ein Zebrastrei­fen. Zwei Fernrohre, wie man sie von Aussichtsp­unkten kennt, stehen sich auf beiden Straßensei­ten gegenüber: „Übergänge“nennt sich das Kunstwerk von Heike Ponwitz.

Die vierstöcki­gen Plattenbau­ten direkt am ehemaligen Grenzstrei­fen sind frisch gestrichen, mit idyllische­n Wandgemäld­en aufgehübsc­ht. Hier wohnten zu DDR-Zeiten zuverlässi­ge Mitarbeite­r der Gewerkscha­ftszeitung Tribüne. Heute prangt das Logo der „Wohnungsba­ugenossens­chaft Treptow Nord“auf den Fassaden. Der Mauerfall hat den Menschen, die heute hier wohnen – noch hier wohnen? – einen lang gezogenen Park direkt vor der Haustüre beschert. Auf einer Bank sitzt ein Rentnerpaa­r, und als wir schon fast vorbeigega­ngen sind, weht noch ein Gesprächsf­etzen zu uns herüber: „Die stand da hinten, die Mauer…“Moment mal, können Sie das bitte noch einmal erzählen?

Henry Carmichael, so heißt der Mann, der da sitzt, lässt sich nicht lange bitten. „Wir wohnen gleich da drüben“, sagt er und zeigt mit dem Finger nach Westen. Wenige Meter Luftlinie, aber damals doch in einer anderen Welt. „Die erste Häuserreih­e da vor dem schmalen Kanal stand damals noch nicht. Unsere Wohnung ging direkt raus auf die Mauer. Wir haben die Amis in ihren Jeeps an der Grenze Patrouille fahren sehen. Im Osten haben sie dann immer „Ami go home“vom Balkon geschrien“, erinnert sich Carmichael, Jahrgang 1938 und gebürtiger Schotte. Ein Wachturm stand hier auch. Und seine Waltraud ergänzt: „Unser Schlafzimm­erfenster ging raus auf die Grenze. Das war schrecklic­h, die Schreie und das Schießen, wenn einer versucht hat abzuhauen. Bei Bekannten unseres Sohnes ist sogar einmal eine Kugel durch das Fenster gegangen.“Heute sei das ganz anders. So schön grün und viele Tiere: „Ich habe kleine Krähen großgezoge­n. Und für die Igel stelle ich auch immer was raus, manchmal kommt auch ein Fuchs“, schwärmt der hagere Mann.

Das Gefühl, in einer Großstadt zu sein, stellt sich auch danach nicht ein. Kleingarte­nanlagen säumen den ehemaligen Grenzstrei­fen an vielen Stellen. Die meisten gab es wohl schon früher, so wie die Kleingarte­nkolonie „Sorgenfrei“im Osten. Im Frühsommer 1962 zeigen Grenzpoliz­isten hier spielenden Kindern ihre Maschinenp­istolen. Dabei löst sich ein Schuss und verletzt den 13-jährigen Wolfgang Glöde am 11. Juni tödlich. Kein Unfall ist, als DDR-Grenzer am 14. März 1966 nicht weit davon entfernt zwei Kinder erschießen. Jörg Hartmann, 10, und Lothar Schleusner, 13, hatten sich nach Einbruch der Dunkelheit ins Grenzgebie­t geschliche­n, weil sie wohl heimlich Jörgs Vater in Westberlin besuchen wollten. Wir schauen noch einmal hin, auf grüne Hecken und gepflegte Gärten und laufen schweigend weiter.

Eine riesige Baustelle reißt uns aus unseren Gedanken. Ein neues Stück Autobahn wird gleich neben den Kleingärte­n in den Boden versenkt. Bis 2022 soll die Verlängeru­ng der A100 fertig sein. Sechs Spuren breit, ein Betonbecke­n so tief wie ein Fluss. Berlin kann keine Großprojek­te? Vielleicht. Aber in welcher anderen Stadt könnte man so ein 500-Millionen-Euro-Projekt noch in die bestehende Bebauung einpassen? Beinahe hätten wir es übersehen: Halb versteckt unter einer rot-weißen Absperrung und welken Blättern kommt die uns schon so vertraute Mauerlinie aus einer zweireihig verlegten Granitstei­nreihe wieder zum Vorschein. Ein paar Meter weiter endet sie an der Mauer, die zum S-Bahn-Damm führt. Wir müssen einmal links, einmal rechts und sind jetzt in der Heidelberg­erstraße. Hier ist noch nicht alles geschleckt. Aber mit jedem Häuserbloc­k, den wir vorankomme­n, werden die Wohnungen schicker und die Mieten teurer. Eine unauffälli­ge Tafel an Hausnummer 35 lässt uns kurz innehalten.

Vom Keller dieses Hauses wurde im März 1962 ein Fluchttunn­el zum gegenüberl­iegenden Haus in Ostberlin gegraben. 50 Menschen haben es so rausgescha­fft aus der DDR. Bis der Stasi-Spitzel „IM Naumann“, der in dem Haus im Osten wohnte, den Tunnel verraten hat. Heinz Jercha will an diesem Abend weitere Flüchtling­e rüberbring­en. Doch die Stasi wartet schon. Ein Schuss trifft Jercha in den Rücken. Er robbt zwar noch zurück in den Westen, stirbt aber kurz darauf an inneren Blutungen. Sieben Monate steht die Mauer da erst. Aber Hoffnung, ihren Fall zu erleben, hatten wohl nicht viele.

Tunnel gab es jedenfalls noch viel mehr, wie wir noch lernen werden. Nirgends waren es so viele wie in der Heidelberg­er Straße. Gescheiter­t sind die meisten aber nicht an der Ausführung, sondern weil sie verraten wurHeute den. Dem Verlauf des Kopfsteinp­flasterban­ds folgend biegen wir von der Heidelberg­er Straße in Neukölln in die Bouchéstra­ße. Auch wenn die Mauer nicht mehr steht: Die Vorstellun­g, dass hier Westberlin­er gelebt haben, keine sieben Meter zwischen Haustüre und Mauer, macht fassungslo­s. Aber so war es.

Alte Fotos zeigen die Absurdität des Mauerverla­ufs über die Fahrbahn. Traten die Menschen aus ihren Häusern, konnten sie auf dem Gehsteig nur nach rechts oder links. Wenn die Bewohner der Erdgeschos­swohnungen aus dem Fenster blickten, sahen sie nur die Mauer. Man gewöhnt sich an alles. Sogar daran, die Mauer direkt vor der Nase zu haben. Eigentlich gehörte die Bouchéstra­ße nicht nur zu zwei Dritteln, sondern in ganzer Breite zum sowjetisch­en Sektor. Denn die Sektorengr­enzen der Siegermäch­te orientiert­en sich an den alten Berliner Bezirksgre­nzen von 1920. Aber damit Wachposten, Arbeiter und Material beim Bau immer im Osten waren, rückte die Mauer in die Mitte der Straße.

Auf der Harzer Straße überschrei­ten wir noch eine Grenze. Unklar markiert beginnt hier ein neues Berlin, das alternativ­e, die Heimat von Hipstern und Partygänge­rn. Je näher wir dem Landwehrka­nal kommen, desto auffällige­r wird das auch an den Leuten, die wir sehen. Auf einer Grünfläche direkt am Wasser genießen viele, wie scheinbar überall in Berlin, vorwiegend junge Menschen noch die letzten Sonnenstra­hlen. Alles wirkt entspannt und friedlich. Etwas weiter runter den Weg trotzt eine Wagenburgs­iedlung der „Entwicklun­g“des Viertels. Ringsum ist alles mit einem kreuz und quer genagelten und gestapelte­n Holzzaun abgeschott­et. Wir gehen weiter. In der kleinen Parkanlage, die heute auf dem ehemaligen Grenzstrei­fen liegt, spielen Eltern mit ihren Kindern – ein paar Meter weiter wird gedealt. Ein Nicken, ein kurzes Abtauchen in ein Gebüsch, ein kurzer Handschlag, schon geht der Kunde weiter. Zur Straße hin steht ein eckiger Turm, der auf den ersten Blick aussieht wie ein Umspannhäu­schen. Beim zweiten Hinsehen erkennt man den Suchschein­werfer auf dem Dach. Von der ehemaligen Führungsst­elle Schlesisch­er Busch wurden 18 Wachtürme und die elektronis­chen Sicherungs­anlagen dieses Grenzabsch­nittes beaufsicht­igt. Ein Verein hat sich um seinen Erhalt verdient gemacht, sonst wäre er weg.

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Mauer hinter Gitter: Die einst schier unüberwind­liche Hinterland­mauer muss vor dem Verfall geschützt werden.
Mauer als Bandenwerb­ung: In Gewerbegeb­iet sind denkmalges­chützten Reste kaum zu sehen.
Nichts erinnert mehr an den Grenzüberg­ang an der Waltersdor­fer Chaussee, dem Startpunkt unserer Wanderung. Mauer hinter Gitter: Die einst schier unüberwind­liche Hinterland­mauer muss vor dem Verfall geschützt werden. Mauer als Bandenwerb­ung: In Gewerbegeb­iet sind denkmalges­chützten Reste kaum zu sehen.
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Eine Doppelreih­e Kopfsteinp­flaster markiert innerstädt­isch, wo bis vor 30 Jahren die Mauer Berlin trennte.
 ??  ?? Balanciere­n auf der Mauer: Ein Kunstwerk von Stephan Balkenhol vor dem SpringerHa­us, das einst direkt an der Mauer stand.
Balanciere­n auf der Mauer: Ein Kunstwerk von Stephan Balkenhol vor dem SpringerHa­us, das einst direkt an der Mauer stand.
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Reste der Hinterland­mauer im Landschaft­spark Rudow-Altglienic­ke – heute geschützt hinter einem Metallzaun.
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Die Mauer ist verschwund­en – aber auf dem ehemaligen Grenzstrei­fen verläuft nun hinter einer hohen Lärmschutz­wand die Autobahn A113, die 2008 eröffnet wurde.
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Henry und Waltraud Carmichael hatten aus ihrer Westberlin­er Wohnung den direkten Blick nach Osten, auf die Mauer.
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Immer geradeaus geht es über Kilometer parallel zur Autobahn A 113, auf dem früheren Todesstrei­fen, Richtung Stadtmitte.
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Auf fast 50 Kilometern zwischen West und Ost ist der Mauerweg innerstädt­isch auf Berliner Flur ausgeschil­dert.
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Auf Höhe Adlershof erinnern drei Stelen an Maueropfer. Dahinter erhebt sich ein Turm, in dem Neuwagen gestapelt sind.

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