Augsburger Allgemeine (Land West)

Die schwierigs­te Rede seines Lebens

Am Tag nach dem Mauerfall reist Theo Waigel nach Berlin. Er soll dort vor 100000 Leuten sprechen. Im Flugzeug schreibt er sich ein paar Gedanken auf. Doch wie viel Hoffnung darf man den DDR-Bürgern machen?

- VON MICHAEL STIFTER

Als die Menschen in Berlin auf der Mauer tanzen, hält Theo Waigel gerade im Kreis Neu-Ulm eine Rede zum 25-jährigen Jubiläum des CSUOrtsver­bandes Illerberg. „Die deutsche Frage steht auf der Tagesordnu­ng der Weltpoliti­k“, sagt der CSU-Chef – und kann nicht ahnen, dass sie in diesen Minuten auf dieser Tagesordnu­ng ganz nach oben gerutscht ist. Eilmeldung­en auf Smartphone­s gibt es damals nicht. Erst später erfährt Waigel, dass die DDR an diesem Abend ihre Grenzen zum Westen geöffnet hat. Zu Hause in Oberrohr schaltet er den Fernseher ein. Er telefonier­t mit Helmut Kohl, den die Ereignisse während eines Besuchs in Polen überrasche­n. Am nächsten Tag wollen

„Die Sowjets sollten auf keinen Fall etwas in den falschen Hals bekommen.“

Theo Waigel über seine Rede nach dem Mauerfall

sie sich in Berlin treffen. Waigel muss dort die vielleicht schwierigs­te Rede seines Lebens halten, denn er weiß: Jedes falsche Wort kann den Weg zur Einheit verbauen.

In Moskau wird angespannt verfolgt, was da im sozialisti­schen Bruderstaa­t DDR passiert. Noch bleiben die russischen Soldaten ruhig, noch ist kein Schuss gefallen. Aber niemand weiß in diesem Moment, ob der Kreml der Revolution tatenlos zuschauen wird. „Michail Gorbatscho­w hat damals zwei Menschen angerufen: Helmut Kohl und Willy Brandt. Und beide haben ihn davon überzeugt, dass sich die Demonstrat­ionen nicht gegen die Sowjetunio­n richten. Er hat ihnen mehr vertraut als dem Erich Honecker, und das war ein großer Glücksfall“, erinnert sich Waigel drei Jahrzehnte später.

Auf der Fahrt zum Münchner Flughafen und später im Flieger nach Berlin macht sich der damals 50-Jährige Notizen. „Freude, Dankbarkei­t, Hoffnung, Optimismus“sind die ersten vier Worte, die Waigel einfallen. Am Ende werden es neun Seiten handschrif­tlicher Stichworte sein. Der erste Termin in der noch geteilten Stadt findet nachmittag­s vor dem Schöneberg­er Rathaus statt. Dort, wo John F. Kennedy für das berühmte Bekenntnis „Ich bin ein Berliner“bejubelt wurde, wird der Bundeskanz­ler gnadenlos ausgepfiff­en. Die Bilder gehen um die Welt, und Waigel wird nie vergessen, wie wütend Kohl darüber war. Er selbst hat Glück, denn er wird erst später bei einer CDUKundgeb­ung vor der Gedächtnis­kirche sprechen. Das Publikum dort ist weniger feindselig. Doch wie viel Hoffnung darf man diesen Menschen machen?

„Ich habe jedes Wort genau abgewogen, denn die Sowjets sollten auf keinen Fall etwas in den falschen Hals bekommen“, erinnert sich Waigel. Als er an jenem Abend nach dem Mauerfall vor 100000 Menschen ans Rednerpult tritt, dankt er deshalb nicht nur den westlichen Partnern, sondern zollt auch der Politik Gorbatscho­ws seinen Respekt. Er lässt aber auch keinen Zweifel am Ziel der Bundesregi­erung: „Freie Selbstbest­immung aller Deutschen“. Dass es nicht einmal ein Jahr dauern wird, bis Ost und West ein Land sind, kann er sich da noch nicht vorstellen.

Den später erhobenen Vorwurf, die Wiedervere­inigung sei zu schnell erfolgt, hält er für Unsinn. „Wir hatten doch nur ein Zeitfenste­r von eineinhalb Jahren. Schon 1991 wurde Gorbatscho­w weggeputsc­ht, und wir hätten nie und nimmer mit einem anderen – nicht mit Jelzin und erst recht nicht mit Putin – diese Chance gehabt“, gibt Waigel zu bedenken. Er ist außerdem davon überzeugt, dass die Menschen die DDR ohne die Ausnächste sicht auf eine baldige Einheit in Scharen verlassen hätten.

Am 10. November 1989 vor der Gedächtnis­kirche lobt der damalige Finanzmini­ster den „Mut und die politische Tapferkeit“der DDRBürger. Er versichert ihnen die Solidaritä­t der Bundesrepu­blik. Dass viele Menschen im Osten 30 Jahre später frustriert sind und beklagen, ihr Land sei quasi vom Westen geschluckt und seiner Identität beraubt worden, kann er nicht nachvollzi­ehen. Er gibt aber zu, es sei ein Fehler gewesen, der Bevölkerun­g nicht von Anfang an offen zu sagen, wie katastroph­al die wirtschaft­liche Lage der DDR tatsächlic­h war. Stattdesse­n hatte Kohl den Ostdeutsch­en bekanntlic­h versproche­n, die neuen Bundesländ­er würden sich schon bald in blühende Landschaft­en verwandeln. Er gewann die

Wahl – gegen die SPD und deren Bedenken.

In den Monaten nach dem Fall der Mauer wird Waigel zu einem der Architekte­n des Vereinigun­gsprozesse­s. Als er nach seiner Rede vor der Gedächtnis­kirche nach Bonn fliegt, trifft er im Flugzeug Egon Bahr. Der enge Vertraute Willy Brandts hatte in den siebziger Jahren mit seinem Slogan „Wandel durch Annäherung“das Verhältnis zum Osten entspannt und einen entscheide­nden Schritt zur Überwindun­g der deutschen Teilung gemacht. „Sie wissen schon, Herr Waigel, dass jetzt Weltgeschi­chte geschriebe­n wird“, sagt Bahr. Der CSU-Politiker stimmt ihm zu. Am Abend zuvor hatte er in Illerberg noch über die Tagesordnu­ng der Weltpoliti­k gesprochen. Nun ist die Welt eine ganz andere.

 ?? Fotos: Archiv Waigel/Repro AZ ?? Theo Waigel ist CSU-Chef und Bundesfina­nzminister, als die Mauer fällt. Was soll er den Menschen in der DDR sagen? Wie reagiert die Sowjetunio­n auf die Revolution? Aus diesen Notizen entstand die Rede, die Waigel am 10. November 1989 vor der Berliner Gedächtnis­kirche gehalten hat.
Fotos: Archiv Waigel/Repro AZ Theo Waigel ist CSU-Chef und Bundesfina­nzminister, als die Mauer fällt. Was soll er den Menschen in der DDR sagen? Wie reagiert die Sowjetunio­n auf die Revolution? Aus diesen Notizen entstand die Rede, die Waigel am 10. November 1989 vor der Berliner Gedächtnis­kirche gehalten hat.
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