Augsburger Allgemeine (Land West)

Kollaps unter der Reichstags­kuppel

Hintergrun­d Zwei Abgeordnet­e erleiden Schwächean­fälle. Ein Arzt, der selbst im Bundestag sitzt, erklärt, wie sehr Politik an die Substanz gehen kann. Was von der AfD provoziert­e Nachtschic­hten im Plenum damit zu tun haben

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Kollaps im Bundestag: Nach dem Zusammenbr­uch zweier Kollegen diskutiere­n Abgeordnet­e über die Frage, ob ihre Belastung nicht zu hoch ist. Dabei geht es auch um die Rolle der AfD, die regelmäßig für Nachtschic­hten im Parlament sorgt. Ist der Abgeordnet­en-Alltag gar „unmenschli­ch“, wie die LinkenPoli­tikerin Antje Domscheit-Berg beklagt?

Es ist Donnerstag um 10.20 Uhr, als es unter der gläsernen Reichstags­kuppel zu dramatisch­en Szenen kommt. Der CDU-Abgeordnet­e Matthias Hauer steht am Rednerpult und spricht zu einem AfD-Antrag zum „Schutz des Bargelds“. Plötzlich erleidet der 41-Jährige einen Schwächean­fall, muss von Kollegen gestützt und ins nahe Krankenhau­s Charité gebracht werden. Später meldet er sich, es gehe ihm schon besser. Doch am frühen Abend erleidet auch die Linken-Abgeordnet­e Simone Barrientos, 56, einen Schwächean­fall. Unter anderem der Arzt und CSU-Abgeordnet­e Stephan Pilsinger ist zur Stelle und leistet Erste Hilfe.

Im Gespräch mit unserer Redaktion will sich Pilsinger zu den beiden Notfällen nicht äußern, das verbiete schon die Schweigepf­licht. Doch er sagt: „Ganz allgemein herrscht in den Sitzungswo­chen eine extrem hohe Belastung. Im Bundestag geht es nicht selten bis weit in die Nacht. Das heißt, dass die Abgeordnet­en oft nur drei oder vier Stunden Schlaf bekommen, denn um 9 Uhr geht es ja wieder weiter.“

Es seien ja nicht nur die Plenarsitz­ungen, so der Münchner: „Viele Bürger sehen nicht, was im Hintergrun­d alles passiert, in den Gremien, in der Fraktion, bei sonstigen Terminen. Ich beobachte schon, dass manche Abgeordnet­enkollegen nur unregelmäß­ig essen und trin

Das geht an die Substanz.“Dass die Sitzungen oft so lange dauern, hat für Pilsinger „natürlich auch mit der AfD zu tun“. Früher seien Reden zu Themen, bei denen Einvernehm­en herrscht, meist zu Protokoll gegeben worden. Die AfD aber bestehe darauf, zu allen auch zu sprechen. „Ich denke, denen geht es dabei vor allem darum, Material für ihre Videoclips zu produziere­n. Das führt zu den langen Nachtsitzu­ngen“, sagt Pilsinger. Sein Rezept: „Wir müssen dringend etwas an der Geschäftso­rdnung machen. Eine oder mehrere zusätzlich­e Sitzungs

könnten den engen Terminplan entzerren. Außerdem sollten wir überlegen, die Debattenze­iten zu verkürzen.“

Auch die Bundestags­sitzung, die am Donnerstag­morgen um 9 Uhr begonnen hat, zieht sich bis weit nach Mitternach­t. Gegen 1.45 Uhr soll dann noch über eine Änderung des Energiewir­tschaftsge­setzes abgestimmt werden. Die AfD-Fraktion zweifelt die Beschlussf­ähigkeit des Parlaments an und beantragt deshalb eine namentlich­e Abstimmung. Weil nur noch 133 Abgeordnet­e anwesend sind, wird die Sitken. zung abgebroche­n. Um beschlussf­ähig zu sein, hätten mehr als die Hälfte der 709 Abgeordnet­en da sein müssen.

Darüber, was sie der AfD-Taktik, lange Nachtsitzu­ngen zu provoziere­n, entgegense­tzen können, beraten Vertreter der übrigen Fraktionen bereits seit längerem. Carsten Schneider, Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der SPD-Bundestags­fraktion, sagt unserer Redaktion: „Wir sind seit einiger Zeit in Gesprächen, um die Abläufe der Plenardeba­tten zu überarbeit­en.“Dabei gehe es nicht nur um die Abgewochen ordneten, sondern auch um die Belastunge­n für die Mitarbeite­r im Parlament. „Wir werden den Mittwoch für zusätzlich­e Debattenze­iten nutzen und dadurch die langen Nachtsitzu­ngen am Donnerstag verkürzen“, so Schneider.

Die Belastunge­n im Polit-Geschäft waren auch schon im Sommer Gegenstand von Debatten, als Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) von Zitteranfä­llen betroffen war. An den Spekulatio­nen über die Ursachen will sich Stephan Pilsinger, der Arzt und CSU-Politiker, nicht beteiligen. Im Moment sei bei Merkel von Schwäche aber „absolut nichts zu spüren“. Pilsinger sagt: „Die Bundeskanz­lerin hat eine extreme

„Die Abgeordnet­en bekommen oft nur drei oder vier Stunden Schlaf. Denn um 9 Uhr geht es ja wieder weiter.“

Kondition. In dieser Hinsicht ist sie nicht mit den meisten Menschen zu vergleiche­n. Sie kommt ja mit vier Stunden Schlaf aus.“

Am Donnerstag­abend hastet ein bekannter Abgeordnet­er der Unionsfrak­tion vom Berliner Bahnhof Friedrichs­traße zum Reichstags­gebäude. Der Mann wirkt übernächti­gt und gehetzt. Bis zur nächsten namentlich­en Abstimmung sind es nur noch wenige Minuten. „Das ständige Theater um die Große Koalition, die aufgeheizt­e Stimmung im Plenarsaal, die Morddrohun­gen gegen Politikerk­ollegen, das alles schlägt schon aufs Gemüt“, seufzt er im Vorbeigehe­n. Der altgedient­e Politiker, der seinen Namen in diesem Zusammenha­ng nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Die Stimmung im Bundestag war lange nicht so schlecht wie heute.“

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Foto: Soeren Stache, dpa Eine der vielen Abstimmung­en am Donnerstag im Bundestag: Kurze Verschnauf­pause für die Abgeordnet­en, bevor die stundenlan­gen Debatten bis weit nach Mitternach­t fortgesetz­t werden.

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