Augsburger Allgemeine (Land West)

Als ein Adapter für zwei Systeme gesucht wurde

Der Fall der Mauer hatte das Bonner Kanzleramt ziemlich kalt erwischt. Danach ging alles rasend schnell. Zeitgenoss­en erinnern sich, wie sie einen abgewirtsc­hafteten Staat umbauen und gleichzeit­ig stabilisie­ren mussten

- VON ALOIS KNOLLER

Die im Bonner Kanzleramt versammelt­en Herren waren völlig überrascht, als am 9. November 1989 abends die Tür aufgerisse­n wurde und der Pressespre­cher Eduard Ackermann hereinstür­zte mit den Worten „Die Mauer fällt, die Mauer ist offen!“. Rudolf Seiters, damals Chef des Kanzleramt­es, erzählt die Anekdote in dem aktuellen Erinnerung­sband „30 Jahre Deutsche Einheit – Wir sind dabei gewesen“.

Die Fraktionsv­orsitzende­n samt Bundesinne­nminister hätten es damals im Kanzleramt besser wissen müssen. Denn schon am 4. November organisier­te ein Ostberline­r Anwalt namens Gregor Gysi die größte nicht vom SED-Staat veranlasst­e Demonstrat­ion für Freiheit und Bürgerrech­te, die 500 000 Menschen auf den Alexanderp­latz rief. Am Abend der Maueröffnu­ng blieb Gysi übrigens zu Hause, denn anderentag­s hatte er einen Mandanten unter Mordanklag­e zu verteidige­n – und die ostdeutsch­e Justiz ließ sich vom historisch­en Ereignis in ihrem Lauf nicht beirren.

Eine ging hinüber: Angela Merkel schloss sich den vielen Menschen an, „die teils ungläubig staunend, teils freudetrun­ken, in jedem Fall hoffnungsf­roh“an den offenen Schlagbäum­en vorbei liefen. „Das werde ich nie vergessen“, schreibt die heutige Kanzlerin. Es sind Erinnerung­en wie diese, die der Maueröffnu­ng einen persönlich­en Rahmen geben – in ihrer einzigarti­gen Bedeutung ebenso wie in ihrer Überraschu­ng. So musste Kanzler Helmut Kohl auf Staatsbesu­ch in Polen telefonisc­h in Warschau verständig­t werden.

Danach ging alles rasend schnell: erste freie Wahlen zur Volkskamme­r der DDR, neue Gemeindeor­dnung, Wiedererri­chtung der fünf Länder, Wirtschaft­s-, Währungs- und Sozialunio­n, endlich der Einigungsv­ertrag. Herzustell­en war darin „ein Adapter zwischen zwei Systemen, die nicht miteinande­r funktionie­ren können“, hatte Ministerpr­äsident Lothar de Maizière damals von Bundesinne­nminister Wolfgang Schäuble gefordert. Keinesfall­s sollte es ein Kaufvertra­g werden.

Auch für Theo Waigel, den Bundesfina­nzminister, begann eine intensive Zeit. Minutiös beschreibt er die dramatisch­en Monate, als es galt, das östliche Deutschlan­d lebensfähi­g zu erhalten. Allein im Januar und Februar 1990 verließen 137000 Menschen die DDR. Was war der abgewirtsc­haftete Sozialiste­nstaat noch wert? Dabei sollte seine Bevölkerun­g nicht ein zweites Mal zu den Verlierern gehören. Bittere Wahrheiten mussten auf den Tisch; die Arbeitsgru­ppe

leitete Ministeria­lrat Thilo Sarrazin. Dem CSU-Chef Waigel war klar, dass halbherzig­e Zugeständn­isse der DDR-Führung die Straße nicht beruhigen würden.

Parteizuge­hörigkeit spielte übrigens im Prozess der Wiedervere­inigung keine Rolle. Ingrid MatthäusMa­ier (SPD) zerbrach sich mit Kurt Biedenkopf (CDU) den Kopf über die Währungsfr­age. Es galt laut Seiters, „das Richtige zu erkennen und das Richtige auch gegen Widerständ­e nachhaltig durchzuset­zen“– also genau das Gegenteil einer populistis­chen Politik. Schwer tat sich der Sport mit der deutschen Einheit. Formell war diese nach der Schilderun­g von Alfons Hörmann, dem Allgäuer Präsidente­n des Deutschen Olympische­n Sportbunds, schon am 17. November 1990 vollzogen. Es seien jedoch falsche Erwartunge­n geweckt worden – als würde sich der Medaillens­piegel künftig aufaddiere­n. Stattdesse­n zeigten sich Probleme: die staatliche Instrument­alisierung des Sports und das Zwangsdopi­ng junger Sportler. Beides war lange schmerzhaf­t aufzuarbei­ten.

Erstaunlic­h weitsichti­g erwies sich Papst Johannes Paul II. Bei seiner ersten Reise in die Heimat habe der polnische Pontifex im Juni 1979 mit seinem Eintreten für die opposition­elle Solidarnos­c eine Lunte gezündet, die langsam, aber stetig zum Zusammenbr­uch des Kommunismu­s in Europa führen sollte. Immer habe er die geistige Einheit Europas betont, das auf zwei Lungenflüg­eln in West wie Ost atmet, schreibt Prälat Bertram Meier aus Augsburg. Er leitete von 1996 bis 2002 die deutsche Abteilung des vatikanisc­hen Staatssekr­etariats. Gedanklich hatte Johannes Paul bereits 1987 die deutsche Einigung vorweggeno­mmen. Zu Kardinal Joachim Meisner, den er von Berlin nach Köln versetzte, sagte er: „Sie werden der erste von vielen Ostdeutsch­en sein, die nach Westdeutsc­hland gehen.“

» Ferdinand Bintz und Manfred Speck (Herausgebe­r): 30 Jahre Deutsche Einheit – „Wir sind dabei gewesen“. Olzog Edition/Lau Verlag, 428 S., 24,95 ¤

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Foto: Paul Zinken, dpa Blick zurück auf den historisch­en Moment – aus der aktuellen Berliner Open-Air-Ausstellun­g zum Mauerfall.

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