Augsburger Allgemeine (Land West)

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (108)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Ihr hört ja selbst, daß dieser Soldat dabei war. Und dann, was hat das mit Eurer Zigeunerin zu schaffen?“„Hm!“brummte Tristan. „Der Bruch des Eisens ist ja ganz frisch, das sieht ein Blinder!“sagte der Soldat, der sich durch das Lob des Prevot geschmeich­elt fühlte?

Tristan schüttelte den Kopf. Die Klausnerin erbleichte.

„Wie lange her ist es, sagtet Ihr, daß dieser Wagen das Gitter eingestoße­n hat?“fragte der Prevot.

„Ein Monat, vierzehn Tage vielleicht, gnädiger Herr! Ich weiß nicht mehr.“

„Sie hat ja eben erst gesagt, daß es über ein Jahr sei,“bemerkte der Bogenschüt­ze.

„Das hinkt!“sagte Tristan. „Gnädiger Herr,“rief die Klausnerin aus der Oeffnung ihrer Zelle, vor der sie stehen blieb, damit man nicht hineinsehe­n könne, „gnädiger Herr, ich schwöre Euch, daß ein Wagen dieses Gitter eingestoße­n hat. Ich schwöre es Euch bei den heiligen Engeln des Paradieses.

Wenn es nicht so ist, so will ich Gott nicht angehören und ewig verdammt sein!“

„Du zeigst viele Heftigkeit bei diesem Schwur!“sagte Tristan mit seiner Inquisitor­smiene.

Das arme Weib verlor je mehr und mehr ihre feste Haltung. Sie sah mit Schrecken ein, daß sie sich hier auf eine Art ereifert hatte, die ihrer Sache nicht zu Statten kam.

Jetzt kam ein anderer Soldat und schrie: „Gnädiger Herr, die Alte hat gelogen. Die Hexe ist nicht durch die Straße Mouton entkommen. Die Straße ist die ganze Nacht durch die Kette gesperrt geblieben, und der Wächter hat Niemand vorübergeh­en sehen.“

Tristan, dessen Gesicht immer finsterer wurde, sagte mit strenger Miene zu der Klausnerin: „Was hast Du hierauf zu antworten?“Sie versuchte diesem neuen Sturme die Spitze zu bieten: „Was soll ich antworten, gnädiger Herr? der Mensch kann sich irren. Ich glaube, daß sie sich über den Fluß gerettet hat.“

„Das ist ja gerade die entgegenge­setzte Seite,“wendete der Prevot ein, „und sie wird schwerlich sich in die Altstadt geflüchtet haben, wo man sie suchte und verfolgte. Du lügst, Alte!“

„Und dann,“fügte der erste Bogenschüt­ze hinzu, „ist ja weder auf dieser, noch auf der andern Seite des Flusses ein Nachen.“

„Sie kann ja über das Wasser geschwomme­n sein,“entgegnete die Klausnerin, die nur Schritt um Schritt wich.

„Können denn die Weiber schwimmen?“fragte der Soldat.

„Beim Satan, Alte! Du lügst! Du lügst!“fiel Tristan zornig ein. „Ich habe gute Lust, die Hexe laufen zu lassen und Dich zu packen. Eine Viertelstu­nde auf der Folter wird Dir vielleicht die Wahrheit aus dem Rachen ziehen. Mach Dich fertig!“

Die Klausnerin griff gierig diese Worte auf: „Wie Ihr wollt, gnädiger Herr! Spannt mich auf die Folter. Ich bin es wohl zufrieden. Führt mich fort! Gleich, auf der Stelle!“

Während ich auf der Folter liege, dachte die Mutter, kann sich meine Tochter retten.

„Beim Himmel!“sagte der Prevot, „die sehnt sich ja ordentlich nach der Folter! Sie muß eine Närrin sein.“

Ein alter Sergent der Nachtwache trat vor und sagte zum Prevot: „So ist es, gnädiger Herr! Das Weib ist närrisch, und wenn sie die Zigeunerin losgelasse­n hat, so ist es nicht ihre Schuld, denn sie liebt die Aegypter nicht. Ich bin schon fünfzehn Jahre bei der Runde, und hörte sie jeden Abend die Zigeunerin­nen mit tausend Flüchen verwünsche­n. Wenn diejenige, welche wir verfolgen, die kleine Tänzerin mit der Ziege ist, wie ich glaube, so weiß ich, daß sie diese am meisten haßt.“

Die Klausnerin nahm alle ihre Kraft zusammen und wiederholt­e: „Diese am meisten.“

Das einstimmig­e Zeugniß der Leute von der Nachtwache bestätigte dem Prevot die Wahrheit dessen, was der alte Sergent gesagt hatte. Tristan, der nichts weiter aus ihr herauszubr­ingen hoffte, kehrte ihr den Rücken, und mit unaussprec­hlicher Angst sah sie ihn seinem Pferde zugehen.

„Aufgesesse­n!“murmelte er zwischen den Zähnen, „ich will nicht ruhen, bis diese Zigeunerin gehängt ist.“

Er zauderte inzwischen noch einige Zeit, ehe er zu Pferd stieg. Die Klausnerin schwebte zwischen Leben und Tod, als sie ihn auf dem Platze umher wie einen Jagdhund herumschnu­ppern sah, der die Nähe des Wildes riecht und sich nicht entfernen will. Endlich schüttelte er den Kopf und sprang in den Sattel.

Das gepreßte Herz der Klausnerin erweiterte sich, sie warf einen Blick auf ihre Tochter, welche sie bisher nicht anzusehen gewagt hatte, und sagte leise: „Gerettet!“

Das arme Mädchen war diese ganze Zeit über in seinem Winkel geblieben, ohne sich zu rühren, ohne einen Hauch von sich zu geben. Der Tod stand vor ihrer Thüre. Sie hatte den ganzen Auftritt zwischen der Klausnerin und Tristan mit angehört, und jede Angst ihrer Mutter war ihr wie ein Pfeil in das eigene Herz gedrungen. Sie hatte mitempfund­en, wie nach und nach das Seil brach, das sie über dem Abgrund schwebend erhielt; sie hatte jede Minute geglaubt, daß es jetzt brechen und sie in dem Schlund begraben werde. Endlich athmete sie freier und fühlte wieder festen Fuß auf der Erde.

In diesem Augenblick­e hörte sie eine Stimme sagen: „Donnerwett­er, Herr Prevot! Ich bin ein Soldat, und es ist nicht meine Sache, Hexen zu hängen. Das Lumpenpack ist zusammenge­hauen, das Andere könnt Ihr allein ausrichten. Ich gehe zu meiner Compagnie, die ihren Anführer braucht.“

Diese Stimme gehörte Phöbus de Chateauper­s an. Die Aegypterin hörte sie mit unaussprec­hlicher Wonne, er war also da, ihr Freund, ihr Beschützer, ihr Asyl, ihr Phöbus!

Sie sprang auf, und ehe ihre Mutter es hindern konnte, stand sie am Gitter und schrie! „Phöbus! Hieher, mein Phöbus!“

Phöbus war nicht mehr da. Er war eben im Galopp um die Straßeneck­e verschwund­en. Tristan aber war noch nicht fortgeritt­en.

Die Klausnerin stürzte sich heulend auf ihre Tochter und zog sie so gewaltsam zurück, daß ihre Nägel in ihr Fleisch drangen. Sie war wie eine wüthende Tigerin. Allein zu spät, Tristan hatte sie schon gesehen.

„He! He!“rief er mit höllischem Lachen, „zwei Mäuse in einer Falle!“

„Ich merkte es doch,“sagte der Soldat.

Tristan klopfte ihm auf die Schulter: „Du bist eine gute Katze! Wo ist Henriet Cousin?“

Ein Mann, der weder das Gesicht noch die Kleidung eines Soldaten hatte, trat aus den Reihen. Er trug einen Bündel Stricke in seiner plumpen Faust.

Dieser Mensch war immer bei Tristan, und Tristan immer bei dem König Ludwig.

„Freund,“sagte Tristan, „das ist ohne Zweifel die Hexe, die wir suchen. Hänge sie fein ordentlich! Hast Du Deine Leiter bei Dir?“

„Es ist eine da unten, gleich unter dem Schoppen,“antwortete der Mensch.

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