Augsburger Allgemeine (Land West)
„Das Thema Organspende muss jetzt in den Lehrplan“
Interview Der Leiter des Transplantationszentrums an der Uniklinik Augsburg hält die beschlossene Reform für realitätsfern
Herr Prof. Anthuber, Sie leiten das Transplantationszentrum an der Universitätsklinik Augsburg. Sind Sie überrascht, dass die Widerspruchslösung abgelehnt wurde?
Prof. Matthias Anthuber: Ich habe es befürchtet. Aber ich bin maßlos enttäuscht, dass wir es nicht geschafft haben. 18 Länder um uns herum haben die Widerspruchslösung und damit wesentlich mehr Organspender. Dort wird dieser Weg von der Bevölkerung akzeptiert und wir hören von keiner Kritik und von keinen Unregelmäßigkeiten. Nur wir Deutschen sind der Meinung, dass wir uns hier absetzen müssen, obwohl wir ansonsten den europäischen Gedanken so groß vor uns her tragen. Ausgerechnet an diesem Punkt, an dem es um die Rettung von Leben geht, sehen wir in der Widerspruchslösung Individualrechte mit Füßen getreten. Ich bin wirklich traurig. Vor allem aus dem Grund, weil wir Ärzte auch in den nächsten Jahren vor verzweifelten Menschen sitzen werden, die uns fragen: Wann bekomme ich eine
Niere? Wann bekomme ich endlich ein Herz? Muss ich bald sterben?
Hat die Politik versagt?
Anthuber: All diejenigen Politiker, die mit guten Sachgründen, aber auch mit emotionalem Engagement vehement für die Widerspruchslösung gekämpft haben, haben alles gegeben. Aber all die anderen Politiker, die so vehement die Individualrechte betonen und gleichzeitig gesellschaftliche Solidarität, sind viel zu kurz gesprungen und haben nicht erkannt, dass uns die Entscheidungslösung in den letzten 30 Jahren nur Rückschritt gebracht hat. Und ich bin auch wahnsinnig enttäuscht von der katholischen und der evangelischen Kirche.
Gehören Sie einer Kirche an? Anthuber: Ja, ich bin katholisch. Und ich finde mich einmal mehr und gerade bei diesem Thema in meiner Kirche nicht wirklich wieder. Denn, was die katholische und die evangelische Kirche getan haben, finde ich nicht fair. Sie sind aktiv auf die Bundestagsabgeordneten
zugegangen und haben um die Stimme zugunsten der erweiterten Entscheidungslösung geworben. So sehr ich einzelne Kirchenvertreter schätze, aber das stimmt mich traurig. Es wäre den Kirchen gut angestanden sich in dieser Diskussion neutral zu verhalten und nur den Hinweis zu geben, dass Organspende ein Akt christlicher Nächstenliebe ist.
Es sind eben viele auch gegen die Widerspruchslösung ...
Anthuber: Ich kann andere Meinungen respektieren. Kein Problem! Aber ich kann es nicht verstehen, dass man aus dem Auge verliert, dass tagtäglich Menschen sterben müssen, weil wir viel zu wenig Organspender haben. Und mich würde es interessieren, wie der einzelne Politiker entscheiden würde, wenn sein Kind, wenn seine Frau, wenn sein Vater auf einer Warteliste stünde und verstirbt und er wüsste, in einem anderen Land – nicht weit weg, in Österreich etwa oder in Spanien – mit einer anderen Gesetzgebung und viel höheren Organspendezahlen hätte der eigene Angehörige die lebensrettende Transplantation erhalten ...
Es fehlt die persönliche Betroffenheit? Anthuber: Ich glaube, das ist der Punkt. Das Thema ist am Ende für die meisten viel zu weit weg.
Welche Folgen hat das Nein zur Widerspruchslösung?
Anthuber: Wir, die wir für die Widerspruchslösung gekämpft haben, müssen dieses Nein als Motivation sehen, nicht nachzulassen. Ich persönlich werde alles dafür tun, mit konstruktiven Beiträgen weiter für mehr Organspenden zu werben. Vielleicht ist in ein paar Jahren eine erneute Initiative dann erfolgreich. Wer nun aber gefordert ist, das ist der Staat.
Inwiefern?
Anthuber: Es ist realitätsfern zu glauben, dass in Zukunft Ämter und Hausärzte für mehr Information sorgen können. Die Hausärzte haben dafür gar keine Zeit und in Teilen auch nicht die umfangreichen Kenntnisse, die für eine belastbare Aufklärung benötigt werden. Die Mitarbeiter in den Ämtern können Flyer verteilen, mehr nicht. Die Vorstellung von Politikern, dass man auf diesem Weg eine substanziell wirkungsvolle Aufklärung betreiben kann, ist für mich grotesk. Nein, der Staat muss jetzt mehr machen und mehr Geld in die Hand nehmen, um mit geschultem Personal und nachhaltigen Informationskampagnen Aufklärung zu betreiben. Und das Thema muss verpflich- tend in den Lehrplan der neunten oder zehnten Jahrgangsstufe gebracht werden. Andernfalls wird es so weitergehen wie in den letzten 30 Jahren: Wir werden uns überhaupt nicht in Richtung mehr Organspende bewegen.
Interview: Daniela Hungbaur