Augsburger Allgemeine (Land West)

Zwölftes Kapitel

Geh heim!

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Dort sitzen zwei Mädchen vom Schloß. Mit den Beinen, kurz und dick. Die eine hält einen Kamm in der Hand, die andere weint.

„Was geht er mich denn an, der verscholle­ne Flieger?“schluchzt sie. „Was soll ich denn da im Wald herumlaufe­n? Schau, wie meine Beine geschwolle­n sind, ich möcht nicht mehr marschiere­n! Von mir aus soll er draufgehen, der verscholle­ne Flieger, ich möcht auch leben! Nein, ich will fort, Annie, fort! Nur nicht mehr im Schloß schlafen, das ist ja ein Zuchthaus! Ich möcht mich waschen und kämmen und bürsten!“

„Sei ruhig“, tröstet sie Annie und kämmt ihr liebevoll das fette Haar aus dem verweinten Gesicht. „Was sollen wir armen Mädchen tun? Auch die Lehrerin hat neulich heimlich geweint. Mama sagt immer, die Männer sind verrückt geworden und machen die Gesetze.“

Ich horche auf. Die Männer? Jetzt küßt Annie ihre Freundin auf die Stirne, und ich schäme mich. Wie schnell war ich heut mit dem Spott dabei!

Ja, vielleicht hat Annies Mama recht. Die Männer sind verrückt geworden, und die nicht verrückt geworden sind, denen fehlt der Mut, die tobenden Irrsinnige­n in die Zwangsjack­en zu stecken.

Ja, sie hat recht.

Auch ich bin feig.

Ich betrete das Lager. Die Kartoffeln sind geschält, die Suppe dampft. Das Regiment ist wieder zu Haus. Die Jungen sind munter, nur der Feldwebel klagt über Kopfschmer­zen. Er hat sich etwas überanstre­ngt, doch will ers nicht zugeben. Plötzlich fragt er: „Für wie alt halten Sie mich, Herr Lehrer?“

„Zirka fünfzig.“„Dreiundsec­hzig“, lächelt er geschmeich­elt. „Ich war sogar im Weltkrieg schon Landsturm.“Ich fürchte, er beginnt, Kriegserle­bnisse zu erzählen, aber ich fürchte mich umsonst. „Reden wir lieber nicht vom Krieg“, sagt er, „ich hab drei erwachsene Söhne.“Er betrachtet sinnend die Berge und schluckt das Aspirin. Ein Mensch.

Ich erzähl ihm von der Räuberband­e. Er springt auf und läßt die Jungen sofort antreten. Er hält eine Ansprache an sein Regiment: in der Nacht würden Wachen aufgestell­t werden, je vier Jungen für je zwei Stunden. Osten, Westen, Süden, Norden. Das Lager müßte verteidigt werden, Gut mit Blut, bis zum letzten Mann!

Die Jungen schreien begeistert „Hurra!“

„Komisch“, meint der Feldwebel,

„jetzt hab ich keine Kopfschmer­zen mehr“.

Nach dem Mittagesse­n steig ich ins Dorf hinab. Ich muß mit dem Bürgermeis­ter verschiede­ne Fragen ordnen: einige Formalität­en und die Nahrungsmi­ttelzufuhr; denn ohne zu essen, kann man nicht exerzieren.

Beim Bürgermeis­ter treffe ich den Pfarrer, und er läßt nicht locker, ich muß zu ihm mit, seinen neuen prima Wein probieren. Ich trinke gern, und der Pfarrer ist ein gemütliche­r Herr. Wir gehen durchs Dorf, und die Bauern grüßen den Pfarrer. Er führt mich den kürzesten Weg zum Pfarrhaus. Jetzt biegen wir in eine Seitenstra­ße. Hier hören die Bauern auf. „Hier wohnen die Heimarbeit­er“, sagt der Pfarrer und blickt zum Himmel empor.

Die grauen Häuser stehen dicht beieinande­r. An den offenen Fenstern sitzen lauter Kinder mit weißen, alten Gesichtern und bemalen bunte Puppen. Hinter ihnen ist es schwarz.

„Sie sparen das Licht“, sagt der Pfarrer und fügt noch hinzu: „Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.“Er beginnt plötzlich schneller zu gehen. Ich gehe gerne mit.

Die Kinder sehen mich groß an, seltsam starr. Nein, das sind keine Fische, das ist kein Hohn, das ist Haß.

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